Die alten Grenz- und Zollanlagen sind im herrlichsten Verfall begriffen." 

Foto: Robert Newald

Gedenktreffen der Honoratioren in Hegyeshalom: Mátyás Schmatovich (Altbürgermeister Bezeny), László Szöke (BM Hegyeshalom) und Gerhard Zapfl (BM Nickelsdorf).

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2. Mai 1989: Reporter Weisgram kommt seiner Berichtspflicht nach, als Arbeiter damit beginnen, dem Eisernen Vorhang den Garaus zu machen.

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Von Wien über die Bundesstraße kommend, fährt man nach Nickelsdorf nicht hinein, sondern hinunter. Die B 10, die Budapester Straße, folgt hier geländegängig der Kante von der Parndorfer Platte ins Kisalföld, der kleinen ungarischen Tiefebene. Einst waren die drei Nickelsdorfer Hauptstraßen - die Obere, die Mittlere und die Untere - eine echte Verkehrshölle, Teil einer von Europas Haupttransitrouten. In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren verlief hier der Hauptzubringer zur Magyarhilfer Straße, der damals gerade etwas unpässlichen Einkaufsstraße mitten in Wien, die ohne die kaufentschlossenen Ungarn die Zeit als U-Bahn-Baustelle ökonomisch nur schwer hätte durchtauchen können.

Hier aber, in Nickelsdorf, war verkehrstechnisch eine Begegnungszone härteren Zuschnitts. Hier war erst die bedeutendste Lücke im Eisernen Vorhang, dann eine ebensolche in der EU-Außengrenze, dann der kontinentweit frequentierteste Schengen-Übergang. Heute allerdings sind Nickelsdorf und das benachbarte Hegyeshalom auch nur wenig mehr als eine Autobahnabfahrt zwischen Wien und Budapest. Die B 10, die Budapester Straße, die als Obere, Mittlere und Untere Hauptstraße durch Nickels- dorf Richtung Grenze und also Hegyeshalom führt, gehört jetzt wieder ausschließlich den Nickelsdorfern und ihren unmittelbaren Nachbarn.

Kriminalität gegenwärtig aber im unteren Bereich

Fragt man Gerhard Zapfl, der den nicht ganz 1700 Nickelsdorfern den Bürgermeister macht seit 1996, ob diese verkehrsmäßige Beruhigung in seinem Sinne wäre und also dem Ort gut tue, so antwortet er mit einem vielsagenden, mehrdeutigen "Naja". Denn einerseits: eh, ja, schon. "Es hat Jahre gegeben, da haben wir drei Verkehrstote gehabt. Das muss man sich einmal vorstellen!" Aber andererseits halt auch: Der Verkehr, die Grenze, das Haltenmüssen, das Verzollensollen, das alles habe der Gemeinde ökonomisch klarerweise gutgetan. Unternehmen sonder Zahl, von Tankstellen und Elektrogeschäften bis zu Speditionen. Arbeitsplätze. Kommunalsteuer. "Wir haben echte Boomzeiten gehabt." Und jetzt? "Einbrüche, serienweise."

Der SPÖ-Politiker beeilt sich zu betonen, dass die gestiegene und - jedenfalls gefühlt - weiter steigende Kriminalität sich immer noch im vergleichsweise unteren Bereich bewege. Gleichwohl: "Es nervt." Und zwar ungemein. Viele Nickelsdorfer seien bereits mehrmals einschlägig besucht worden. Teure landwirtschaftliche Maschinen, aber auch stinknormale Werkzeuge wurden entwendet. Am Friedhof verschwand bereits zum zweiten Mal der kupferne Grabschmuck. Im Vorjahr ist einem Bauern, der eine Holunder-Plantage betreibt, in einer Nacht die gesamte Jahresernte gestohlen worden. Ja, das nervt. Zumal jetzt einer der beiden Polizeiposten - es gab stets einen für die Grenze und einen fürs Dorf - unter der argumentativen Bedeckung des regierungsgängig gewordenen Neusprechs geschlossen werden wird.

Mehr als 600 Bürger haben eine Gemeindeversammlung dazu verlangt. Man wird eine dort gefasste Resolution über die B 10 nach Wien schicken. Im Eh-schon-Wissen, was retour kommen wird. Wer braucht in Wien schon Nickelsdorf? Oder, umgekehrt, in Budapest Hegyeshalom, wo sich die Nickelsdorfer Sorgen spiegelgleich wiederfinden.

Imaginäre Linie

Ein Vierteljahrhundert Geschichte hat durch diese Gegend geblasen. Steif und zuweilen böig, wie es auch meteorologisch üblich ist im Land der Windräder. Immerhin aber, das sagen sie alle hier - der Gerhard Zapfl aus Nickelsdorf, sein Kollege László Szoke aus Hegyeshalom und Mátyás Schmatovich, der dolmetschende Altbürgermeister aus dem benachbarten Bezenye - immerhin hat der Sturm der Historie jenen frischen Wind hereingeblasen, der aus dem einstigen Niemandsland eine Art Jemandsland gemacht hat. Zumindest im übertragenen Sinn wird seither - ein aus tiefungarischer Zeit stammender Brauch im Burgenland - zur regelmäßigen Hotterwanderung gerufen.

Grenze heißt auf ungarisch határ. Die Burgenländer haben das Wort 1921 als "Hotter" mit nach Österreich genommen. Der meint allerdings auch die ganze Gemarkung des Ortes. Wo der Nickelsdorfer Hotter auf den von Hegyeshalom trifft, verläuft dann die imaginäre Linie der - ja: pleonastischen - Hottergrenze, die einst die Hottergrenze zwischen den beiden Welten gewesen ist. Mátyás Schmatovich - der ungarische Kroate spricht Deutsch mit einem burgenländischen Zungenschlag - meint, dass niemand, der nicht hier, auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs, im Niemandsland zwischen den Welten aufgewachsen ist, ermessen könne, was da passiert sei vor mittlerweile auch schon wieder 25 Jahren. Diese Grenze sei ja auch eine Richtung Ungarn gewesen. "Wir konnten ohne speziellen Ausweis nicht spazieren gehen auf den Feldern."

Russische "Handwerkskunst"

Gerhard Zapfl wiegt den Kopf. Auch nach Nickelsdorf hinüber hat der Eiserne Vorhang ja seine Schatten geworfen. Und zwar was für welche! Darauf kann man sich einigen im Amtszimmer von László Szoke im polgármesteri hivatal, dem herausgeputzten Bürgermeisteramt von Hegyeshalom, dem man die Ziel-1-Förderung sehr ansieht. Neben dem Gemeindeamt steht eine flache Baracke, die ein Restaurant und ein Lebensmittelgeschäft beherbergt. Davor ein hübscher, kleiner Park; ein Parkplatz. Schmuck das alles.

Vor exakt 25 Jahren trug dieser Platz an der Fo utca von Hegyeshalom alle Verfallszeichen des spätsozialistischen Scheißdraufs. Das Amtshaus und die Baracke, die damals weniger ein Restaurant beinhaltete, eher eine Ausspeisung, waren vergammelt. Der Platz nicht asphaltiert, sondern geteert, das aber sichtlich auch schon früh in den 1970ern. So manches - Strominstallationen zum Beispiel - wirkte, als wäre es extra als Verunstaltung angebracht worden. Für solche und ähnliche Handwerkskunst gab und gibt es vom östlichen Österreich bis weit hinunter ins Transsilvanische ein eigenes Wort, in dem sich all der Überdruss ausdrückt, zu dem die konsequente Missachtung eines zumindest rudimentären Schönheitsbedürfnisses führt: russisch.

Ja, alles war schwer russisch hier. Am 2. Mai 1989 allerdings - fast auf den Tag genau vor einem Vierteljahrhundert also - lag über der aus dem steten Mangel zu einem permanenten Provisorium zusammengepfuschten Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus ein merkwürdiger Schimmer des Unwirklichen. Die magyarischen Grenzer hatten, das alleine schon eine kleine Sensation, zu einer internationalen Pressekonferenz gerufen. Hunderte Journalisten, Fotografen und Kamerateam waren angereist und zwängten sich in die Kantinenbaracke. Dort sprach der Vizechef der Grenztruppen, ein Oberst Balázs Nováky, ein sehr großes Wort überraschend gelassen aus: "Die technischen Grenzsperren zu Österreich werden abgebaut. Sie sind veraltet."

Hinaus ins Niemandsland

Sowohl die aus Budapest als auch die aus Wien angereisten Journalisten verstanden den Oberst richtig, nämlich in seiner frappanten, ja provokanten Doppeldeutigkeit. Da mochte er dann - vielleicht doch ein wenig erschrocken über den kecken Doppelsinn - noch so sehr die technische Veraltung und den daraus resultierenden, nicht mehr argumentierbaren finanziellen Aufwand im Instandsetzungsfall herausstreichen. Jeder in der Ausspeisungshalle neben dem Gemeindeamt von Hegyeshalom hörte das Politische, ja Weltpolitische. Und die bei der Anreise schon gesteigerte Erwartung verdichtete sich zur Gewissheit: Man erlebte gerade einen historischen Moment.

Zu so einem gehören die Bilder. Oberst Nováky bat die Journalisten zu den auf dem russischen Platz stehenden Bussen. Mit denen ging es hinaus ins Niemandsland. Die Soldaten warteten bereits mit schwerem Gerät. Die Betonpfeiler, zwischen denen der rostig gewordene Stacheldraht zum Eisernen Vorhang gespannt war, wurden nicht ausgegraben, sondern herausgerissen. So entschlossen, so unmissverständlich, so unumkehrbar wollte man sich präsentieren. Die Schreiber hielten sich im Hintergrund. Es waren die Fotografen und Kameraleute, die der Welt zu erzählen hatten: Der Eiserne Vorhang war einmal. Heute, da haben die Schreiber wieder das Sagen, geht das verkehrt herum, märchenhaft: Es war einmal der Eiserne Vorhang.

Die drei älteren Herren, die sich von einem junggebliebenen Fotografen und einem altgewordenen Reporter haben zusammentrommeln lassen im ganz und gar nicht mehr russischen polgármesteri hivatal, erzählen davon. Dass es zwar längst noch nicht gut geworden sei, hier an der Grenze. Woher denn! Aber doch, alles in allem, besser. Einbrüche hin, schwindende Arbeitsmöglichkeiten her. Als die Schengengrenze verschwand, Ende 2007, und aus Nickelsdorf und Hegyeshalom bloße Autobahnabfahrten wurden, verschwanden auch die größten Arbeitgeber. "Zöllner", sagt Gerhard Zapfl, "wurden keine mehr gebraucht." Die damit zusammenhängenden Niederlassungen der Speditionen wurden abgebaut. "Die Tankstelle auf der Autobahn hatte ein Nickelsdorfer Pächter. Dann hat der Konzern gesehen, was für ein gutes Geschäft das ist, seither führt es das Unternehmen direkt."

Beschäftigung bei der Bahn

Drüben beim Nachbarn ist die Sache nicht anders. László Szoke, selbst einst in leitender Funktion beim Zoll, sieht immerhin die Chance des Grenzpendelns. "Hegyeshalom ist ja ein altes Schwabendorf, Straß-Sommerein heißt es auf deutsch, nicht alle wurden 1949 vertrieben, deutsch sprechen noch viele hier, deshalb war es nie ein Problem, zum Arbeiten nach Österreich zu gehen." Bei der Bahn - durch Nickelsdorf und Hegyeshalom führt die Ostbahn nach Budapest - findet sich Beschäftigung. Ein Logistikzentrum bietet 200 Menschen Arbeit. "Jetzt wird ein weiteres geplant", sagt der Bürgermeister, der dann auf noch einmal so viele Arbeitsplätze hofft.

Ob man hier nicht vor allem auch von der Lage im Dreiländereck profitiere, man sich in Hegyeshalom oder dem kroatischen Bezenye also auch oder vor allem ins nahe Bratislava orientiere, will der altgewordene Reporter wissen. Und muss zur Kenntnis nehmen: So schnell kann man sich auch heute noch die Zunge verbrennen. Der junggebliebene Fotograf erinnert sich, während er die im élelmiszerbolt in der Baracke eben erstandene, mit g'schmackig rot glänzender Paprikawurst reich gefüllte Semmel verspeist, an eine Journalistenfrage an den Grenzschutz-Oberst. Was er denn nun zu tun gedenke, der ungarische Grenzschützer, wenn aus Ungarn jemand illegal über die demnächst grüne Grenze nach Österreich wechselt. Robert Newald schwört Stein und Bein, damals vom Oberst gehört zu haben: "Das ist jetzt die Angelegenheit Österreichs, in Ungarn gibt es Reisefreiheit." Der altgewordene Reporter kann dem Fotografen nur beipflichten. Genauso hat er es damals auch gehört. Die Frage stellte übrigens der damalige ORF-Korrespondent in Budapest, Karl Stipsicz, weshalb des Obersten Antwort schon am Abend in allen Wohnzimmern zu vernehmen gewesen ist. Auch in dem des Jörg Haider, dem an diesem Abend ganz offensichtlich eine Idee einschoss. Eine Idee, die seither nicht nur Österreich loszuwerden versucht, indem es den aus der Nase geholten Zeigefinger schüttelt und schüttelt und schüttelt. Denn irgendwo hinschmieren - das will man dann ja auch wieder nicht.

Luft zum beckmessernden Vernadern

Ein Rätsel ist es nicht gerade, dass das Verschwinden des Albs vom Brustkorb Europas nicht bloß ein freieres Atmen zur Folge hatte, sondern dass die zusätzliche Luft auch zum beckmessernden Vernadern, zum Schlechtreden und Miesmachen genutzt wurde und weiterhin wird. Schade ist es dennoch, dass selbst die unmittelbaren Nachbarn sich das Zusammenleben so eifrig verdrießen lassen und selber verdrießen. Die Frage, ob man sich nicht auch nach Bratislava orientiere, die Lage im Herzen der boomenden Twin-City-Region nützend, wird da beinahe als eine Zumutung verstanden. Mit den Slowaken, so wird einem beschieden, sei nicht gut Kirschen essen; besser also, die Finger davon zu lassen. "Die Slowaken sehen uns - und auch die dort lebende, starke ungarische Minderheit - irgendwie als Bedrohung", erklärt Mátyás Schmatovich, dessen Bezenye - kroatisch Bizonja, deutsch Pallersdorf - fast schon ein Vorort der einstigen ungarischen Hauptstadt, Pozsony, ist. "In Rajka, direkt an der Grenze, haben sie ja schon eine ganze slowakische Siedlung", sagt László Szoke. "So wie in Kittsee", ergänzt Gerhard Zapfl. Der hat mit den Slowaken keine Probleme, gar keine. Aber um die zwischennachbarschaftlichen bei den Nachbarn weiß er wohl Bescheid. "Bei einem Bürgermeistertreffen in der Slowakei hat die Gastgeberin auf slowakisch und deutsch begrüßt, aber nicht auf ungarisch." Bürgermeister Szoke und Altbürgermeister Schmatovich nicken entschieden, als wäre damit die Reporterfrage hinreichend beantwortet.

Der Bürgermeister zeigt seinem Nickelsdorfer Kollegen eine doppelt gelfaltete Ansichtskarte. Sie zeigt das alte Großungarn vom ukrainischen Transkarpatien bis zum kroatischen Rijeka. Zwischen den Kartonlagen schaut der Teil eines gezahnten Papprades heraus. Wenn Gerhard Zapfl daran dreht, erweitert sich die neuungarische Hottergrenze zu einem rundum laufenden Spalt. Das alles hat der Friedensvertrag von Trianon 1920 vom Ungarland weggesprengt. Der Splitter im Norden hieß einst Felvidék, Oberland. Heute heißt es schlicht: Slowakei. "Ungarn", erzählt Mátyás Schmatovich den uralten Witz, "ist das einzige Land der Welt, das von sich selbst umgeben ist." Mit dem Rad am Rand der Karte lässt sich das schön veranschaulichen: vor und zurück. Das echte Rad der Zeit freilich kann keiner mehr zurückdrehen. Und das zu akzeptieren fällt zuweilen schwer.

Verrottende Grenzanlagen

Draußen, im einstigen Niemandsland, ist kein Spalt zu sehen, dort, wo sich einst die Welt geteilt hat. Der Fotograf und der Reporter einigen sich schließlich auf eine Feldwegkreuzung, von der aus man auf einen burgenländischen Windpark schaut. "Hier muss es gewesen sein." Geradeaus ginge es zur Erzsébet puszta, einem alten Meierhof.

So ein Vierteljahrhundert hinterlässt seine Spuren. Die alten Grenz- und Zollanlagen, die sich einst quer zur Budapester Straße gelegt haben, sind im herrlichsten Verfall begriffen, wohl wert, von historisch interessierten Schulklassen besucht zu werden. Die nun verrottenden Grenzanlagen waren selbst im flächendeckend verkommenen Spätsozialismus nie russisch. Die waren fast deutsch, tipptopp. Als einmal ein Lkw den Schranken zu Österreich durchbrach - hier in Nickelsdorf war das -, wurden diese Schranken als baumdicke Stahlbetonpfosten wiedererrichtet. Bedient wurden sie von einem Untergebenen des Oberst Nováky, der, umherspähend und gefahrwitternd, in seinem erhöhten Kabäuschen saß. Die Zufahrten zum Schranken waren mäandernd angelegt. Kein LKW sollte mehr Schwung holen können.

Das tat stattdessen das Rad der Zeit. Aber das war von dem Kabäuschen aus, dessen Ruine noch nutzlos und nicht einmal mehr symbolisch mahnend herumsteht, nicht zu sehen.

Eine einzige Frage hat der Altgewordene dann noch. Die entscheidende: Wie das jetzt so sei mit der Liebe. "Wird fleißig hin- und hergeheiratet?" Und der Reporter darf zufrieden reportieren: Ja, wird es. Die Tochter des polgármester-úr von Hegyeshalom hat sich - "nur zum Beispiel", sagt László Szoke - einen Österreicher gefunden. Das mit dem Heiraten, meint der Vater, hat Zeit. Weil es, so hofft er sichtlich, ja eh nur eine Frage der Zeit ist. Und mit dieser Frage hat man hier, im nunmehrigen Jemandsland, reichlich Erfahrung. (Wolfgang Weisgram/Robert Newald, DER STANDARD, 26.4.2014)