Benn auf einer Briefmarke verewigt: "Seine Stimme verführte die Publizistin Elke Heidenreich zu den Worten: 'Ich ertappe mich bei Gedanken wie: Alles gäbe ich, würde diese Stimme einmal meinen Namen sagen.'"

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Gestern habe ich wieder von Dr. Hering geträumt. Er trug Zwicker und Gehrock und sprach mit näselnder, von intellektuellem Hochmut vibrierender Stimme, während er gespielt unterwürfig den Kopf neigte. Er richtete das Wort an Gottfried Benn, der auf dem Podium saß und ihn mit verhangenem Blick aus "Augen eines Tigers" (Else Lasker-Schüler) fixierte. Dr. Hering sprach: "Ich finde es beklagenswert, wenn wir, die wir hier uns auseinandersetzen wollen, auch schon mit Verallgemeinerungen, um nicht zu sagen mit Simplifikationen anfangen, nicht wahr, und das betrifft auch den so sehr von mir verehrten Herrn Doktor Benn. Ich füge gleich hinzu, alles was ich jetzt sage, ist mit dem Hut in der Hand gesprochen. Das versteht sich von selbst unter höflichen Menschen."

"Mit dem Hut in der Hand", eine schöne 1950er-Jahre-Floskel, die Großmutter von Joschka Fischer: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch." Neben Benn sitzt Heinrich Böll, so wie man ihn von Fotos kennt, mit Baskenmütze und Zigarette. Er treibt in rheinischem Singsang die Diskussion "Soll Dichtung das Leben bessern?" voran. Neben Benn und Böll sitzt der katholische Dichter Reinhold Schneider. Er wird in der Diskussion immer wieder um eine Art Behindertenstatus bitten, weil er ja nicht nur Dichter ist, sondern eben auch Christ. Was Benn, den Nihilisten, wenig beeindruckt. "Das erkenne ich durchaus nicht an", sagt er. "Wer zwingt einen Christen, Kunst zu machen, wenn er eben hauptsächlich Christ ist?"

Benns Stimme! Sie verführte die Publizistin Elke Heidenreich zu den Worten: "Ich ertappe mich bei Gedanken wie: Alles gäbe ich, würde diese Stimme einmal meinen Namen sagen." Zum Zeitpunkt dieser Diskussion ist Elke Heidenreich zwölf Jahre alt - erst mit 15 wird sie Benns Gedichte entdecken, und erst mit über 60 diese Liebeserklärung schreiben. Im Publikum des WDR-Funkhauses sitzt eine andere Frau, das kluge "Fräulein Mebes". Anzunehmen, dass sie eine Studentin der Literaturwissenschaft, der Germanistik ist - ihre Spur verliert sich später.

Dass sie in Benns Briefen an seinen Freund Oelze nicht auftaucht, könnte heißen, dass sie nicht attraktiv oder nicht willig genug war, um nach der Diskussion von ihm angebaggert zu werden und so Eingang in seine Lyrik und seine Liebschaften zu finden. Als sie das Wort erhebt, spürt man Benns Grundsatz durch: "Männer wollen von Frauen nicht am Gehirn berührt werden." Er spricht ihn nicht laut aus, aber als Mebes sich erhebt, murmelt er erstaunt: "Eine junge Dame!"

Lachen im Publikum

"Herr Doktor Benn, Sie sagen also, Dichtung soll das Leben nicht bessern, und sie soll schon gar nicht mahnen. In Probleme der Lyrik haben Sie ja geschrieben: Wie sieht heute ein schlechtes Gedicht aus? Eins, das nämlich 'andichtet': Wenn der Dichter drin sitzt, sieht draußen ein Weizenfeld, was getragen hat und nicht mehr trägt, und dann plötzlich kommt also ... Pipapo ... 'Schwebt mir nicht da mein eigenes Leben vor?' Das, schreiben Sie, ist schlecht! Jetzt findet man aber in Ihrem neuen Gedichtband Aprèslude zum Beispiel ein Gedicht wie Ebereschen. Das fängt auch erst an mit einer poetischen Staffage, und zum Schluss kommt: 'Wo aber färbtest, fülltest, reiftest du?'"

"Ja", sagt Benn und wischt den Einwand mit einem platten Witz weg: "Da hat mir jemand geschrieben, mein gnädiges Fräulein, es kommt ihm so vor, als ob ich Ostereier färben wollte." (Lachen im Publikum.)

Ich sitze mittendrin. Untergehakt mit Benn, Böll, Hering, Mebes und Schneider. Nicht dass wir schunkelten. Aber wir sind nicht von fester Materie, wir sind eine Art Traumgötterspeise, eine Gedankenmelange. Wir sind ein rudimentäres kollektives Gedächtnis. Wir sind die Idee dessen, dass die furztrockenste Rundfunkdiskussion 1955 auch 2014 tausendmal spannender ist als Jauch, Lanz, Maischberger, Illner und Beckmann zusammen.

Wie kommt das? Geht es nur mir persönlich so? Übt der Adenauer-geschwängerte bundesdeutsche Nachkriegsmief auf mich als DDR-geborene Atheistin eine besondere Faszination aus? Packt mich Bölls Angst vorm Jüngsten Gericht, wo man nicht gefragt wird, was man für ein Buch gelesen, wohl aber, was man für eines geschrieben hat? Ist es Benns magische Stimme, die der Feministin Elke Heidenreich kleine, spitze Schreie des Entzückens entlockt? Sind es die messerscharfe Diktion und das insistierende Falsett von Herrn Doktor Hering?

Es handelt sich um eine Aufnahme vom 15. November 1955 - ein knappes Jahr vor Gottfried Benns Tod, drei Jahre vor Schneiders Tod, 30 vor Bölls, zehn Jahre vor meiner Geburt. Die Literaturwissenschaft weiß heute, dass sich der in dritter Ehe verheiratete Benn im Umfeld der Aufzeichnung gleich mit zwei Geliebten heimlich im Domhotel Köln traf. Als jüngerer Mann hätte er sicher noch Fräulein Mebes und Elke Heidenreich unterbringen können, aber im Alter hatte er immer mehr Probleme mit der "Parallelführung seiner Liebesverhältnisse" (Fritz J. Raddatz).

In meiner Hand ist dieses Audiofile nur, weil Zweitausendundeins vor zehn Jahren das vollständige Hörwerk Benns herausbrachte. Das Thema "Soll Dichtung das Leben bessern?" führt zu einer hitzigen Diskussion, die ihren Höhepunkt findet in einem geschliffen-maliziösen Dialog zwischen Dr. Hering, der mir gern im Traum erscheint, und Gottfried Benn, der sich kaltschnäuzig und wortgewaltig gegen Herings Anwürfe verteidigt. Von Benn hat jeder Halbgebildete eine opti- sche Vorstellung. Glatzköpfig, gedrungen, mit schweren Lidern. Hering habe ich in meiner Fantasie frei gestaltet. Ein Hauch Diederich Heßling, ein Tick Gründgens. Eines Tages werde ich eine literarische Figur aus Hering machen, schon allein, um von ihm loszukommen.

"Es hat mich gewundert bei Herrn Doktor Benn und Herrn Doktor Schneider" , sagt Hering, "äh, eine Übereinstimmung in der Richtung zu finden, als sei der produktive Mensch nur auf die Galeere seiner Qual geschmiedet. Ich möchte doch fragen: und Freude? Gar keine? Bei Jean Paul vollzog es sich einfach: Der ging in die Bayreuther 'Rollwenzelei' und trank ein Bier, dann schrieb er ein bisschen und fand das alles ganz fröhlich. Goethe, Römische Elegien, nicht wahr, da gibt's eine Situation, die wollen wir hier nicht genau ausführen, da war er in der höchsten Freude und hat trotzdem gedichtet, nicht wahr." "Herr Doktor Benn", ruft Heinrich Böll, "würden Sie so liebenswürdig sein, darauf zu antworten?"

Benn murrt. Kunst und Heiterkeit, das geht für ihn nicht zusammen. "Produktivität wird nur durch einen ungeheuren, durch einen tödlichen Ernst zustande gebracht. Wenn Sie sagen: Ich kann nicht auf der Spitze meines Federhalters leben oder meines ... Kugelschreibers ist es übrigens ... (lautes Lachen im Publikum) dann muss ich sagen, das ist auch nur begrenzt richtig. Natürlich habe ich andere Momente meines Lebens. Ich liege auch auf der Couch zum Beispiel (lautes Lachen im Publikum), nicht wahr, gehe auch spazieren, aber innerlich konzentriert sind Sie nur auf das nächste Wort und auf den nächsten Satz, sonst kommt nichts bei raus, sonst können Sie die Sprache nicht umbiegen und umbrechen und nicht einen Schritt weiterkommen."

Platt auf Bauch und Schnauze

Carl Sternheim schrieb über Benns Technik: "Erschüttert Begriffe von innen her, dass Sprache wankt und Bürger platt auf Bauch und Schnauze liegt." Seine Ehefrau, Thea Sternheim, schwärmte: "Wie kommt sein Wortschatz so ins Blühen?" Und Alfred Döblin sagte, er dichte "urologisch, zugleich kosmisch und prähistorisch, jedenfalls hochgebildet und weithin unverständlich".

Diese alte, knisternde Radioaufnahme hat meine grauen Zellen sprießen lassen, hat Wortschatz und Bildung erweitert, mich zum Lachen gebracht - und zum Träumen, von Dr. Hering. Wenn Gottfried Benn einer der Redner am Speakers' Corner im Hyde Park wäre, dann wäre Dr. Hering einer seiner brillantesten Gegenredner, ihn piesackend, kritisierend, streckenweise neckend, aber immer mit dem Hut in der Hand: "Die Sprache von Herrn Doktor Benn, die von uns so geliebte und bewunderte, ist ja auch doch wohl auch ein geschichtliches Element, nicht wahr, mit der Sprache von Kotzebue ist ja schlechterdings das lyrische Ich Gottfried Benns nicht auszudrücken, da ist ja inzwischen etwas vorgegangen, nicht wahr. Er drückt sich in einer geschichtlich gewordenen Sprache, mit einem Vokabulatorium von ... dazu müssen wir den Pschyrembel lesen, dann müs- sen wir den Schmeil aufschlagen, und das schadet ja auch gar nichts."

"Ich hab Angst vor Ihnen, Herr Hering", sagt Benn - und das Publikum kichert. "Alles, was ich sage, ist mit dem Hut in der Hand gesprochen", sagt Hering. Für mich sind Benn und Hering die ideale Verbindung von Geist und Entertainment. Und das hier gelobte Hörwerk von Gottfried Benn ein ideales Geschenk für alle, die sich von Mario Barth & Co nur unzureichend unterhalten fühlen. (Else Buschheuer, Album, DER STANDARD, 3./4.5.2014)