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Der Vulkan Osorno

Foto: Archiv
"Kennst du die Perle, die Perle Tirols. Das Städtchen Kufstein, das kennst du wohl. . . ." Es sind vertraute Klänge, die über den Marktplatz wehen. Der glasklare See nur wenige Schritte entfernt, die satten grünen Wiesen ringsum und die Häuser im alpinen Stil. Wäre nicht der Vulkan Osorno in Sichtweite, dann könnte diese prächtige Kulisse auch das Voralpenland sein. Es ist aber das Städtchen Puerto Varas am Ufer des Llanquihue-Sees, rund tausend Kilometer südlich von Santiago de Chile.

Hier, im so genannten "Kleinen Süden", erstreckt sich ein Seengebiet, das die Chilenen "das Land der Deutschen" nennen. Im 19. Jahrhundert haben sich hier deutschstämmige Auswanderer niedergelassen, viele traten ihre Reise in der damaligen österreich-ungarischen Monarchie an. Aus Tirol kamen die Vorfahren der Akkordeon-Spielerin im flotten Dirndlkleid, die mit Inbrunst das Kufstein-Lied auf dem Marktplatz von Puerto Varas zum Besten gibt.

Außer ihr kennen bei diesem Freiluftkonzert nur wenige den Text, aber alle schunkeln brav mit. Fast jeder von den Zuhörern hat Verbindungen nach Österreich, Deutschland oder in die Schweiz. Ihre Vorfahren haben die Wildnis rund um die Seen an der Flanke der Anden gerodet und hier in Südchile Wurzeln geschlagen.

In den Liedern und auch in der Küche wird die Verbindung zur alten Heimat nach wie vor beschworen. Immer wieder locken Schilder mit der Aufschrift "Kuchen" oder "Plätzchen" - Begriffe, für die es im Spanischen keine adäquate Übersetzung gibt. So kommen dann Wortkreationen wie "Kuchenes" heraus. Wer Richtung Puerto Octay fährt, kann im Café Mainau einen Stopp für einen Apfelstrudel und einen Kaffee einlegen - und fühlt sich nicht im Süden Chiles, sondern ganz wie zu Hause. Denn dort gibt es wirklich guten Kaffee und nicht den in Chile sonst üblichen Nescafé. Die Fahrt durch die Dörfer rund um den Llanquihue-See ist einerseits voller Déjà-vu-Erlebnisse: hier die schwarz-weiß und braun-weiß gefleckten Kühe, die akkurat geschnittenen Hecken in der aufgeräumt wirkenden Landschaft und die Strohmännchen auf den Feldern, die so gar nicht zu Chile passen.

Andererseits ist das Panorama doch irritierend fremd, anders: nicht nur die Klarheit der Luft, der intensiv blaue Himmel. Es liegt vor allem an dem kegelförmigen Berg, der von überall sichtbar ist, sobald sich der Dunst auflöst. Die weiße, schneebedeckte Spitze des Vulkans reckt sich 2652 Meter hoch in den Himmel. Die Andenkordilere, die Chile mit Argentinien verbindet, löst sich hier in eine Kette von Vulkanen auf.

Der Osorno ist am perfektesten modelliert und entspricht dem Klischeebild, das sich jeder von einem Vulkan macht. Nur der japanische Fujijama kann eine ähnlich perfekte Form aufweisen. Die 110.000-Einwohner-Stadt, der der Vulkan seinen Namen gab, konserviert auch das architektonische Erbe der deutschstämmigen Einwanderer: In der Hauptstraße von Osorno stehen die Casas Mohr Pérez, Schüler, Surber und Stückrath - allesamt pastellfarbene Holzhäuser mit Veranden und mit von Erkern verzierten Fassaden. Auch Geranien und Begonien fehlen nicht. Die Häuser im pittoresken alpenländischen Stil - das älteste aus dem Jahr 1876, das jüngste von 1930 - wurden vor einigen Jahren zum chilenischen Nationalmonument erklärt und somit unter Denkmalschutz gestellt.

Eine höchst lebendige deutsch-chilenische Mischung ist dagegen in dem kleinen Ort Puerto Octay, am Nordufer des Sees Llanquihue auf der Halbinsel Centinela zu beobachten. "Eder y Eder" gellt es durch den Lautsprecher, als der Sieger des Rodeos verkündet wird. Vater Walter und Sohn Pedro haben die besten Fertigkeiten beim Wettbewerb zu Pferde bewiesen.

An diesem Sonntag sind nur Deutschstämmige zugelassen, die sich in diesem chilenischen Nationalsport messen. Den beiden Reitern gelang es am häufigsten, das sichtlich verängstigte Kälbchen gegen den weiß gepolsterten Teil der Holzbande in der kleinen Arena zu drücken. Nur das gibt Punkte.

Beim chilenischen Rodeo wird das Tier zwar gejagt, aber nicht verletzt oder gar getötet. In die spanischen Anfeuerungsrufe mischen sich immer wieder deutsche Aufforderungen: "Schneller! Mach schon!" Auch der Ortsname ist ein Beispiel für eine Verschmelzung, die für diese Gegend hier typisch ist: Octay kommt vom deutschen "Ochs hats". Es stammt aus der Zeit, als ein gewisser Christian Ochs ein gut sortiertes Geschäft hatte, das dem malerischen Ort schließlich 1859 seinen Namen gab.

Auch bei der Siegerehrung für den Rodeo-Wettbewerb, der ein Volksfest für die ganze Region ist, verschmelzen Gewohnheiten, Bräuche und kulturelle Grenzen: Zur Siegerehrung werden von dirndl- gewandeten Kellnerinnen Marillenschnaps, chilenischer Pisco Sour, Gugelhupf und Empanadas (gefüllte chilenische Teigtaschen) serviert. Die Mischung schmeckt hervorragend.

Wer eine echte Bierstube sucht, in der Eisbein und Käsespätzle serviert werden, oder wer im Hotel Salzburg übernachten will, der kann das nur einige Kilometer weiter in Frutillar haben. Hier gibt es üppige Geranien an den Fensterbänken der schönen Holzvillen, Schilder im Bauernmalerei-Stil, mit Herzmuster bedruckte Tischdecken, rot-weiß-rot karierte Vorhänge, Butzenscheiben, Schwarzwälderkirschtorte und Topfenstrudel.

Wie in einem Ort im Salzkammergut oder in einem Tiroler Dorf - wenn nur der Vulkan Osorno nicht wäre: Kein Wunder, dass dies alles auf chilenische Urlauber höchst exotisch wirkt, wie eine Art alpines Disney-Land. Für Österreicher aber auch: Es ist wie eine Zeitreise in die 50er- und 60er-Jahre, als der Urlaub Sommerfrische hieß. Und es ist wie ein Panoptikum all jener Klischees, die man sich in Chile, rund 13.290 Kilometer entfernt, von der Alpenregion macht. (Der Standard/rondo/17/10/2003)