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In Dubai könnte des einen Leid des anderen Freud' sein - oder sogar die Rettung.

Foto: REUTERS/Steve Crisp
Grafik: DER STANDARD

Der Exit 43 am Interchange No. 3 erinnert kein bisschen an die Palmenalleen der Dubaier Luxushotels. Al Quoz heißt die Ecke. Staubige Flächen gehen hier in Lagerhallen über. Betonrohre warten auf Kräne, die vielleicht schon wieder weitergezogen sind. Hinter gezackten Dächern ist die startbereite Architekturrakete des Burj Dubai zu sehen - wenngleich die unverbauten Flächen jetzt die Geschichte einer Notlandung inmitten ei-ner urbanen Mondlandschaft zu erzählen scheinen.

Doch Al Qouz ist auf die Megalomanie des Bauens nicht angewiesen. Es produziert seine eigenen Fata Morganen, und soeben taucht eine davon auf. Im grellen Orange leuchten einige Panton-Chairs am Straßenrand. Designklassiker aus den Seventies, die man in Mailand erwartet hätte, aber keinesfalls zwischen den Zementsäcken und Lastwägen am Interchange No. 3. Was genauso wenig zu passen scheint: dass soeben zwei Typen in schneeweißen Djellabahs auf den stylischen Möbeln in die Sonne blinzeln. Wie Designfreaks sehen die traditionell gekleideten Shabib-Zwillinge nicht unbedingt aus. Doch Dubai ist eine Stadt für den zweiten Blick, heute vielleicht mehr als je zuvor. Und das gilt auch für die beiden Verleger regionaler Lifestyle-Travel-Guides, die soeben ihr jüngstes Kind aus der Taufe heben: "Shelter" - ein Mittelding aus Galerie, Bibliothek und Arbeitsplatz für Kreativberufe. "Shelter" heißt bekanntlich Schutz. Den bieten nun auch andere Facetten einer Stadt, die sich im Schatten des ehemaligen Hypes entwickelt hat und innerhalb der Dubaier der zweiten Generation engmaschige Strukturen aufgebaut haben: vom Motorradbotendienst bis zum Event-Management, von der Traditionsfalafel bis zum regionalen Jeans-Label Diasz, dem Markenzeichen der beiden Fashion-Aufsteigerinnen Rima und Dina Zahran.

Für den Stadtteil Al Quoz sind solche Berufsbilder ganz normal. Schließlich verströmt das bislang "übersehene" Stadtviertel genau jenen Charme, der viele Städte oft erst richtig spannend macht. Dass das auf halbem Wege zwischen Dubai Marina und Downtown gelegene Al Quoz den Zusatz "Industrial District" aufweist, soll dabei niemanden verschrecken. Im Gegenteil: Nicht zuletzt wegen der rauen Location gilt dieses Viertel als Dubais Antwort auf Londons Hackney oder Mailands Zona Tortona: ein Stück vorstädtischer Industrieszenerie, in deren Lagerhallen sich Galerien, Werbebüros, Designstudios niedergelassen haben - kurz: das junge, kreative Potenzial des ins Stottern gekommenen Golf-Turbos. Ein wenig Neonlicht, viel Platz zum Parken, eine leider unordentliche Frisur, für die sich Fräulein Tarane, Assistentin der wieder einmal verreisten Galeristen, entschuldigen möchte - wohl wissend, dass im Inneren der graulackierten Halle alles andere ganz und gar in Ordnung ist, schon gar die sorgfältige Zusammenstellung der aktuellen Schau, die Al Qouz' angesagte The-Third-Line-Galerie gerade präsentiert: Sie ist jungen emiratischen Künstlern gewidmet, die mit ihren Arbeiten auf die spannende Realität des Dubai von heute reagieren.

Gerade ist Lamya Gargash zu Gast, eine emiratische Künstlerin, die ihre neue Mappe unterm Arm trägt. "Presence" heißt die Serie, ein Fotoprojekt leicht visionären Charakters: Sie zeigt ein Dubai, das das Verlassen des Flaschengeistes schon hinter sich hat und das zugleich doch ganz real ist, ein stadthistorisches Manifest, mit dem sich das offizielle Dubai bislang nicht aufhalten wollte, war man doch mit Erstellung urbaner Masterpläne befasst. Durch Lamyas Bilder kriechen Sand und ein Gefühl des Verwehens, es sind Fotos verwaister Häuser aus der Zeit vor dem Erdölboom. Nebenan hat eine Künstlerin hunderte Emailexemplare von Nazar - dem Auge der Fatima, das im Orient vor dem "bösen Blick" schützen soll - kombiniert. Mit solchen Ansätzen schaffte es die Galerie binnen weniger Jahre, Al Qouz zu einem überregionalen Hot Spot der internationalen Kunstwelt zu machen. Aber in Wahrheit steht das Viertel für mehr: Es ist das erste Stück Dubai, das vom Glamourgetriebe heruntergeschaltet und lieber den Rückwärtsgang Richtung Avantgarde eingelegt hat. Das beweist auch ein Blick auf die rund zwanzig Kunsthändler, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft niedergelassen haben. Al Qouz ist keinesfalls das einzige Viertel, in dem sich Dubai von der protzigen Geldmaschine in eine Stadt der Menschen verwandelt. Das Schwächeln des Immobilienmarktes, das schon seit längerer Zeit Projekte auf Eis legt, bedeutete für manche Viertel die Rettung - zumindest vorübergehend.

Treffen mit Mahmoud Kaabour in Al Satwa, einer weiteren Oase im Schatten der Downtown-Wolkenkratzer. Als der Regisseur hier für das staatliche Fernsehen eine Doku über Dubaier Alltagsgeschichten drehte, kam er aus dem Staunen kaum heraus: Da lebt eine alter Mann mit hunderten Tauben auf engs-tem Raum, es tauchen zwischen Uraltgrammofonen längst vergessene Schlagersängerinnen auf - natürlich live. Seither kämpft Kaabour dafür, dass Al Satwa eine Zeitkonserve bleiben darf und die Abrisspläne der mächtigen Immobilienfirmen auf Eis gelegt werden. Wer die als Fressmeile geliebte Al-Diayafah Road entlangschlendert, gibt dem Filmemacher auf Anhieb recht: Leicht angestaubte Schneidereien mit altmodischen Schnitten. Das Beste an allem: Die Läden sind weit älter als der Boom und haben sich Muße bewahrt. Genau das merkt man dem ganzen Viertel an. Es ist der Takt der alten Tage. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Rondo/11.12.2009)