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Judith Butler bei der Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises im Jahr 2012.

Foto: epa/frankürumpenhorst

Wien - Die Gänge rund um das Audimax der Universität Wien waren Dienstagabend zum Bersten voll mit Studierenden. Judith Butler war eingeladen, die 41. Sigmund-Freud-Vorlesung zu halten, und viele wollten die US-amerikanische Philosophin aus nächster Nähe sehen.

Butler machte mit ihrem Erstlingswerk "Das Unbehagen der Geschlechter" zu Beginn der 1990er-Jahre in der feministischen Wissenschaft auf sich aufmerksam. Seitdem gilt die Professorin für Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaften der University of California Berkeley als Begründerin der Queer Theory und Vorreiterin der Gender Studies. Es folgten unter anderem "Körper von Gewicht", "Die Macht der Geschlechternormen" und "Kritik der ethischen Gewalt", ihre Frankfurter Adorno-Vorlesungen. In ihrem aktuellen Buch "Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus" geht Butler, die selbst jüdischen Glaubens ist, der Frage nach, wie eine Kritik am Zionismus aus dem Judentum selbst heraus möglich ist.

Für ihre wiederkehrende Israel-Kritik wird Butler heftig angegriffen. So protestierte etwa der Zentralrat der Juden in Deutschland 2012 gegen die Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises an Butler. Grund dafür: Ihre Unterstützung der internationalen Boykottbewegung "Boycott, Divestment and Sanctions", die in Israel als Versuch angesehen wird, den Staat seiner Legitimation zu berauben. Zusätzlich soll Butler vor einigen Jahren in einer Vorlesung die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah als "progressive" und der "globalen Linken" zugehörige "soziale Bewegungen" bezeichnet haben. Butler sprach damals von einem Missverständnis, sie sei gegen jede Gewalt.

Spektakel um Butler

Von Kritik an Butler ist an der Uni Wien nichts zu spüren. Securities versuchen, die Menschenmassen an Zugängen zu ordnen und alle in Richtung Haupteingang zu lotsen. Sobald die Türen zum größten Hörsaal im Hauptgebäude geöffnet werden, stürmen jedoch alle in den Raum - und bleiben dort. Niemand, der es ins völlig überlaufene Audimax geschafft hat, will es wieder verlassen und Butlers Vortrag "Die Politik des Todestriebs" via Stream in einem anderen Hörsaal verfolgen müssen.

Daher bleiben die Bemühungen der Moderation gänzlich ungeachtet. "Gehen Sie bitte aus den Gängen, sonst können wir nicht beginnen", schallt es mehrfach aus den Lautsprechern. Nachdem es nur eine Minute nach dem angekündigten Veranstaltungsbeginn bereits keine Möglichkeit mehr gibt, die Gender-Forscherin live zu sehen, werden weitere Hörsäle geöffnet und mit einem Live-Stream ausgestattet. Kurze Zeit später gibt die Moderation auf und begnügt sich damit, dass niemand mehr auf der Balustrade der Galerie sitzt - die "Butler"-Rufe werden zu laut, um etwas an der Raumsituation zu ändern.

Problem des Strafens

Es ist bereits der zweite Vortrag, den sie an der Universität Wien hält - davon der erste in deutscher Sprache -, aber selbst die OrganisatorInnen wirken bei ihren Ankündigungen und Danksagungen ob des bevorstehenden Vortrags der "Autorin zahlreicher Bestseller" etwas nervös. "Meinen ersten Butler-Vortrag habe ich im Stream gesehen, den zweiten irgendwo hier im Eck", erinnert sich Matthias Meyer, Dekan der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, die Butlers Vortrag ermöglicht hat: "Heute bin ich froh, das Privileg zu haben, in der ersten Reihe zu sitzen."

Butler gibt sich geehrt, nach Wien eingeladen worden zu sein. "Freuds bemerkenswerter Einfluss auf die Theorie der Gesellschaft und des Sozialen" zeige sich noch heute in vielen Bereichen: Etwa in feministischen und queeren Analysen, in sozialtheoretischen Ansätzen zum Problem des Strafens, sowie in moralischen und politischen Konflikten. "Ich möchte mich Freuds Überlegungen zur Destruktivität zuwenden, die im Zentrum seiner Arbeiten der Zwischenkriegszeit stehen", beginnt Butler. Diesem Punkt würde sie sich unter anderem widmen, weil bereits Jacques Derrida in seinen Seminaren zur Todesstrafe zu Freud zurückkehrte, um sowohl die Todesstrafe selbst als auch ihre GegnerInnen eingehender zu analysieren.

Mit Derrida zu Freud und Nietzsche

Eine zentrale Frage Derridas Seminarreihe war, ob jene Destruktivität, die die BefürworterInnen der Todesstrafe antreibt, von deren GegnerInnen überwunden werden könne. "Obwohl Derrida sich klar gegen die Todesstrafe ausspricht und zeigt, wie sie in den USA eine Form rassistischer Diskriminierung darstellt, ist er über diejenigen, die meinen, mit der Todesstrafe auch die menschliche Destruktivität selbst auslöschen zu können beunruhigt", meint Butler. Nach Derrida müsste man sich dieser Idee verwehren, weil sie darauf abziele, "eine konstitutive Dimension der menschlichen Psyche zu überwinden". Diejenigen, die für die Freiheitsstrafe eintreten, würden lediglich eine "Form aufgeschobener Grausamkeit" vorziehen.

Butler geht über Derrida zurück zu Friedrich Nietzsche, dem zufolge Grausamkeit die Bereiche von Moralität und Recht durchdringe: "Ohne Grausamkeit kein Fest", zitiert Butler den Philosophen. Und fragt sich, ob diejenigen, die die Todesstrafe ablehnen, die Grausamkeit überwinden könnten. "Nietzsche meint, dass Grausamkeit primär sei und ihre Verdrängung nur eine Art, sie gegen das Subjekt selbst zu richten", sagt Butler. Das Verbot aggressiven Handelns sei nach Nietzsche ein "aggressiver Angriff auf die Aggression, der im Versuch die Aggression auszulöschen, diese bewahrt und sogar verdoppelt".

Derrida wendet sich Freuds Überlegungen zur Aggression und zum Todestrieb zu, der Text "Jenseits des Lustprinzips" ist dabei im Fokus. "Das Überraschende an diesem Text ist, dass er das Lustprinzip als alleiniges Organisationsprinzip der Psyche in Frage stellt", sagt Butler. Derrida zeige laut Butler, dass es "um die Diagnose einer Grausamkeit" gehe, die "keinen Widerpart hat". Das führe zu einem Problem für beide Seiten. GegnerInnen der Todesstrafe würden sie wegen der Grausamkeit ablehnen, versuchten damit aber "eine Form von Grausamkeit auszulöschen, die nach Derrida 'ursprünglich' ist." Nach ihm könne diese nur "umgewendet und niemals völlig abgeschafft werden." Dieser "Schachzug" Derridas hätte für sie einen "intellektuellen Reiz", meint Butler. Gerade dann, wenn die GegnerInnen der Todesstrafe eine Inhaftierung vorzögen.

Regulierung von Staatsbürgerschaft

Anknüpfend daran stellt Butler die Frage, ob man sich nur darum bemüht, dass jemand am Leben bleibt, damit dieser weiter leidet; oder ob es auch andere Gründe dafür gibt. Um dies zu beantworten, bedient sich die Philosophin bei Melanie Klein. Klein beschreibt in "Liebe, Schuldgefühl und Wiedergutmachung", die "Macht der Liebe" als eine, in der sich "lebenserhaltende Kräfte offenbaren" und die schon bei Kindern zu finden wäre. Das zeige sich darin, dass die "Phantasie, die Mutter zu zerstören" in Kindern die Angst, eine lebenserhaltende Person zu verlieren, hervorbringe. Die Ambivalenz, die Mutter aufgeben und sie gleichzeitig für immer behalten zu wollen, könne eine "emotionale Bindung" darstellen, die im Reifeprozess eines Menschen auftritt.

"Einen anderen Ausweg" findet Butler bei Angela Davis, die für eine generelle Abschaffung der Gefängnisse eintritt. Eine Reform würde nicht ausreichen, um eine "rassistische Institution, die auf Rache basiert" aufzuheben. Gefängnisse würden, so Davis, übermäßig viele Personen ethnischer Minderheiten ihrer Bürgerrechte berauben. Auch, dass die Todesstrafe unverhältnismäßig oft über Angehörige ethnischer Minderheiten verhängt wird, zeige, dass es sich dabei um ein Mittel handelt, Staatsbürgerschaft zu regulieren. Damit würde die "Frage von Leben und Tod zugespitzt" und Minderheiten stärker betreffen.

Widerstand gegen gesellschaftlich bedingte Prekarität

"Vielleicht muss der Widerstand gegen die Todesstrafe mit einem Widerstand gegen Formen gesellschaftlich bedingter Prekarität sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gefängnisses einhergehen", meint Butler. Dieser Widerstand müsse "Wege finden, die Leben derer zu bewahren, die sonst zerstört würden". So könnte man gegen die Todesstrafe auftreten, während man eingestehe, "zu welchen Formen der Zerstörung wir fähig sind". Denn: "Gerade weil wir zerstören können, sind wir dazu verpflichtet, es nicht zu tun", schließt Butler ihren Vortrag unter tosendem Applaus.

Bei der anschließenden Diskussion ist Butler sichtlich gelockert, macht sogar Scherze: Auf die Frage eines Zuhörers, ob sie etwas zu dem "Phänomen des Todes im Leben" sagen könnte, meint Butler "Ja klar, ich habe noch einen weiteren Vortrag vorbereitet". Ob es eine Art religiöse Hoffnung gäbe, beantwortet sie mit Franz Kafka: "Es gibt Hoffnung, aber leider nicht für uns". (Oona Kroisleitner, dieStandard.at, 7.5.2014)