Studentin Giedre Gudauskaite lernt lieber in der Bibliothek, wo sie die Heizkosten nicht tragen muss.

Foto: Standard/Khakpour

"Die Höchstpreise hängen mit der alten Energie-Infrastruktur zusammen, sie stammt noch aus der Sowjetunion", sagt der litauische Journalist Rytas Staselis.

Foto: Standard/Khakpour

Bild nicht mehr verfügbar.

Viele Litauer hoffen, dass die EU den Weg in die Energieunabhängigkeit ebnet.

Foto: Reuters/Kalnins

Giedre Gudauskaite hält sich immer seltener in ihrem Studentenzimmer auf. "Ich merke, wie sich mein Tagesablauf stärker auf die Uni und nach draußen verlagert", sagt die 27-Jährige. Ihr Blick wirkt nachdenklich, danach folgt ein höfliches Lächeln, so als ob sie ihren Unmut hinunterschlucken würde. "Ich habe meine alte Wohnung aufgegeben, weil ich mir die Gaskosten nicht mehr leisten konnte", setzt die Studentin fort. In ihrer alten Mietwohnung hatte sie knapp 30 Quadratmeter zur Verfügung, musste aber mehr als ein Drittel ihres Einkommens für Energiekosten aufwenden, jetzt kommt sie mit den Pauschalpreisen des Studentenheims gerade noch über die Runden.

Leben an der Peripherie

An der Universität studiert sie Kulturwissenschaft, arbeitet in der Bibliothek als Führerin und singt abends im städtischen Studentenchor. Ihre Sorgen hat sie zu Hause, in ihrem zehn Quadratmeter großen Studentenzimmer an der Peripherie der litauischen Hauptstadt Vilnius gelassen. Giedres Mutter, die alleine lebt, zahlt noch eine Spur mehr: In ihrer Altbauwohnung in einem zwölfstöckigen Gebäudekomplex muss sie oft die Hälfte ihres Einkommens für Gas und Energie aufwenden. Der mittlere Lohn in Litauen beträgt 550 Euro im Monat. Wenn die Preise weiterhin so hoch bleiben, werden immer mehr Litauer an den Rand der Stadt gedrängt.

Hohe Ausgaben und wenig Einnahmen, das Studentenleben in Vilnius hat sich Giedre anders vorgestellt: "Es muss sich etwas ändern, die Energiekosten sind viel zu hoch." Deshalb möchte sie am Sonntag zu den Wahlurnen gehen und ihre "Möglichkeiten nutzen". Sie will die litauische Präsidentschaftswahl und die Wahl zum Europaparlament mitentscheiden, wie sie sagt.

So wie Giedre geht es vielen Litauern. Eine davon ist die 45-jährige Kioskverkäuferin Ruta, die sich von der EU-Wahl eine bessere Kontrolle der Preise erwartet: "Die Wahlen betreffen uns alle, und auch die hohen Preise müssen wir alle zahlen." Auch Ruta wendet gut ein Drittel ihres Einkommens für Energiekosten auf - manchmal heizt sie nicht mehr ein, damit sie sparen kann.

Für Viktor, 37, bleibt Russland ein Solitär, der die Fäden fest in der Hand hat: "Hier in Litauen hat die Gazprom eine Monopolstellung und kann uns alle möglichen Preise aufbrummen." Der Familienvater fühlt sich unfair behandelt, Viktor sagt: "Es gibt keinen Grund, warum wir so viel dafür zahlen müssen."

Hohe Gaspreise

Die Gaspreise in Litauen sind sehr viel höher als in Österreich, ein Verbraucher in Vilnius zahlt mindestens 30 Prozent mehr als ein Gazprom-Kunde in Wien, und das bei geringerem Durchschnittseinkommen. "Die Höchstpreise hängen mit der alten Energie-Infrastruktur zusammen, sie stammt noch aus der Sowjetunion", sagt Rytas Staselis, Journalist bei der Wirtschaftszeitung "Verslo Zinios".

Seitdem das alte Ignalina-Kernkraftwerk als Teilabmachung des EU-Beitrittsabkommens ausgeschaltet werden musste, haben sich auch die Versorgungsverhältnisse erheblich verändert. Von da an musste Litauen auf weitreichende Energieimporte zurückgreifen, erklärt Staselis. Hier wurde die Rolle von Gazprom immer bedeutender: Russland liefert als Einziger Gas nach Litauen und deckt auch den größten Bedarf an Strom ab. In der Erdgasversorgung ist das baltische Land ebenso wie seine Nachbarn Lettland und Estland zu 100 Prozent auf das russische Gas angewiesen.

Flüssiggas aus dem Tanker

Damit soll bald Schluss sein. Die neue Hoffnung vieler Litauer heißt "Unabhängigkeit“ und wird im Dezember dieses Jahres in der litauischen Hafenstadt Klaipeda ihren Betrieb aufnehmen. Die Rede ist von einem fast 300 Meter langen Flüssiggasterminal, der ganz Litauen mit preiswerterem Gas versorgen soll. Laut einer Broschüre von Klaipedos Nafta, jenem Unternehmen, der das neue Flüssiggasprojekt durchführt, zahlt Litauen die höchsten Gaspreise Europas, 405 Euro per 1.000 Kubikmeter Gas.

"Somit könnten wir mehr Unabhängigkeit schaffen und auf preiswerte Alternativen zurückgreifen", bekundet Staselis. Falls alles nach Plan verlaufen sollte, könnte Litauen zu einem baltischen Gasversorgerland aufsteigen, prognostiziert der Journalist: "Unsere Nachbarn Lettland und Estland könnten Kunden von Klaipeda Nafta werden." In der Theorie wären damit zwei Drittel des Gasverbrauchs aller baltischen Staaten abgedeckt.

Mehr Stabilität im Gassektor

Ramunas Vilpisauskas, Direktor des Instituts für Internationale Beziehungen in Vilnius, ortet in der alternativen Beschaffung von Energie vor allem mehr Stabilität für Litauen: "Eine größere Energiesicherheit ist von Vorteil, im Jahr 2006 haben wir mit der Schließung der Ölraffinerie gesehen, was passieren kann." Damals wurde die einzige Raffinerie des Baltikums, Mazeikiu Nafta, verkauft, aber nicht an das überaus interessierte Russland, sondern an Polen. Als Reaktion darauf wurden die Öllieferungen aus Russland zunächst auf Eis gelegt, und aus Moskau kam die Nachricht, dass die Pipeline, die Öl nach Litauen transportieren soll, renovierungsbedürftig sei.

Machtgeflecht und Ränkespiele

Die Raffinerie wurde monatelang als Symbolbild für die machtpolitischen Ränkespiele zwischen den kleinen baltischen Staaten und dem übermächtigen Nachbarn Russland verwendet. "Viele Bürger hatten damals den Eindruck, dass es ein gezielter politischer Vergeltungsakt war, es waren aber tatsächlich technische Umstände", glaubt Vilpisauskas heute zu wissen. Diesmal ist es anders: Noch bevor der neue Flüssiggasterminal in Betrieb genommen wird, haben Gazprom-Funktionäre bereits niedrigere Preise angeboten, ganze 20 Prozent weniger, sagt Vilpisauskas.

Im litauischen EU- und Präsidentschaftswahlkampf wird Russland immer wieder zum Thema. "Dabei geht es um Sicherheitsfragen, die Besetzung der Krim, ein stärkeres Engagement Litauens in der NATO oder andere Sicherheitsstrategien", zählt Vilpisauskas auf.

Information und neue Wege

Laut Ieva Petuskaite vom litauischen Energieministerium wird die Mehrheit der Bevölkerung durch unterschiedliche Informationskampagnen über die aktuelle Energielage informiert. Die EU-Wahl würde zwar keine Bühne dafür bieten, da es hier um litauische Interessen gehe, viele Menschen würden die EU aber als Förderer dieses Unterfangens sehen. "Es ist ein altes Thema in Litauen, das nun mit neuem Schwung angegangen wird", fügt Petuskaite hinzu. Und warum hat es so lange gedauert? "Wir haben uns lange Sorgen gemacht, was unsere Nachbarn und vor allem Russland denken würden", entgegnet sie. Die litauisch-russischen Beziehungen erreichten ihren Tiefpunkt im Jahr 2012: Litauen klagte den Energieriesen Gazprom auf 1,5 Milliarden Euro Rückzahlungen. Das sei jene Summe, die zu viel, zu teuer verrechnet worden war und Gazprom der litauischen Regierung seit 2004 schulde.

Ob dieses politische Hin und Her zwischen EU, Litauen und Russland den Bürgern schließlich billigere Preise ermöglicht, ist sich Giedre am Ende nicht sicher. Für sie zählt, dass sich bald etwas ändert, am besten gleich nach der EU- und Präsidentschaftswahl. Denn: Wenn sie am Abend wieder mit dem alten sowjetischen Oberleitungsbus zurück in ihr Studentenheim fährt, dann kommen auch ihre Sorgen wieder: "Das Kalkulieren beginnt von vorne." (Toumaj Khakpour, derStandard.at, 23.5.2014)