Bild nicht mehr verfügbar.

Herman Van Rompuy intrigiert gegen Jean-Claude Juncker.

Foto: APA/EPA/Arrizabalaga

Nach der öffentlichen Festlegung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel am Freitag, wonach Jean-Claude Juncker nun doch neuer Kommissionspräsident werden soll und sie sich bei den Konsultationen mit ihren Regierungskollegen auch persönlich „in diese Richtung“ einsetzen werde, ist keine Ruhe im Streit um die wichtigste Personalentscheidung nach den EU-Wahlen eingekehrt. Im Gegenteil. Es sieht ganz danach aus, als würde nun erst recht eine regelrechte Schlammschlacht gegen den gemeinsamen Spitzenkandidaten der Europäischen Christdemokraten (EVP) losgehen.

Auslöser dafür scheinen aber erstaunlicherweise nicht die politischen Gegner des früheren luxemburgischen Premierministers zu sein, auch nicht der konservative britische Premierminister David Cameron. Er hat sich ganz offen gegen Juncker als Kommissionschef ausgesprochen so wie der Ungar Viktor Orbán und der Schwede Fredrik Reinfeldt. Die drei wären allein aber weit davon entfernt, beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni eine ausreichende Sperrminorität gegen Juncker bilden zu können. Um ihn zu verhindern, müssten sie 93 von 352 Stimmengewichten im Rat mobilisieren. Großbritannien, Schweden und Ungarn haben gemeinsam aber nur 51 Stimmengewichte (14,4 Prozent).

Die europäischen Sozialdemokraten (SPE) sprechen sich nach wie vor ohne Einschränkungen dafür aus, dass der Wahlsieger dieses Amt bekommen müsse, so wie das den Bürgern vor den Europawahlen auch versprochen worden sei. Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat dies deponiert, auch der Italiener Matteo Renzi, der am Sonntag mit 41 Prozent Stimmenanteil der größte EU-Wahlgewinner war. Der österreichische SP-Bundeskanzler Werner Faymann machte sich ganz besonders für Juncker stark.

Aber auch die Fraktionen von Grünen und Liberalen (mit Fraktionschef Guy Verhofstadt) stehen eisern dazu, dass der EVP-Spitzenmann für die Kommissionsspitze nominiert und dann im Europaparlament mit Mehrheit gewählt werden müsse. Sogar der griechische Syriza-Anführer und Eurokritiker Alexis Tsipras will für Juncker stimmen.

Woran hakt es also? Die Intrigen gegen Juncker gehen direkt von dessen eigenem christdemokratischen Lager, der EVP, aus. Und es deutet einiges darauf hin, dass sogar die deutsche Kanzlerin in Sachen Juncker selbst Opfer von Intrigenspielen wurde, weil sie nur unvollständig informiert wurde.

Vorläufiger Höhepunkt: Die "Bild"-Zeitung, namhaft für ihren guten Zugang ins Berliner Kanzleramt, streute am Samstag böse Gerüchte. Merkel sei gar nie für Juncker gewesen: "Angela Merkel kennt Luxemburgs Exregierungschef lange – vielleicht zu lange. Sie kennt die Alkoholgerüchte, die im Wahlkampf über ihn gestreut wurden. Sie hat auch erlebt, wie er sich eher müde und ausgelaugt durch den Wahlkampf geschleppt hat“, hieß es dort direkt unterngriffig.

Insider nennen zwei Hauptquellen, die für das Durcheinander bei den Europäischen Christdemokraten und die Nadelstiche gegen Juncker verantwortlich seien. Eine liege in Brüssel, die andere in Berlin, erfuhr der STANDARD von mehreren mit dem Vorgang vertrauten Personen: Zum einen handle es sich um den Ständigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, zum anderen um Kreise in der CDU bzw. hohe Beamte des Kanzleramtes in Berlin, die Merkel in diesem Zusammenhang beraten – oder, wie jemand es formuliert, "zu steuern versuchen“.

Sogar Kanzleramtsminister Peter Altmair (der sich für Juncker ausspricht) sei inzwischen alarmiert, befasse sich mit dem Fall. Denn zwischen diesen Epizentren der „Juncker-Verhinderer“ gibt es ein Netzwerk, eine direkte personelle Verbindung. Sie heißt Uwe Corsepius.

Dieser ist seit 2011 als Generalsekretär des Rates der EU sozusagen Van Rompuys höchster Beamter. Er ist einer von wenigen Personen, die an den streng geheimen Sitzungen der Regierungschefs beim EU-Gipfel teilnehmen dürfen. Vor seinem Wechsel war Corsepius Leiter der Wirtschaftsabteilung im Kanzleramt in Berlin, als der Chefberater von Merkel in Sachen Euro/EU – eine Position, die nun Nikolaus Meyer-Landrut als Leiter der Europaabteilung einnimmt.

Den dreien sei eines gemeinsam, schildert ein Insider die Zusammenhänge: Sie sind entschiedene Gegner des Systems "Spitzenkandidat“ bei den Europawahlen, lehnen Junckers Wahl zum Kommissionschef ab, weil er ihnen "zu politisch, zu stark, zu eigenständig“ erscheine. Das würde die Macht der Regierungschefs untergraben. Van Rompuy hat dies vor einigen Wochen in einem aufsehenerregenden Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" offenherzig zu Protokoll gegeben, als er sagte, er halte davon nichts, das EU-Parlament sei auch nicht so wichtig, die "richtigen Entscheidungen“ fielen ohnehin "woanders“ – bei den Regierungschefs nämlich.

Die drei Genannten gehörten während der gesamten Eurokrise seit 2010 zu den wichtigen Strippenziehern im Hintergrund, als es darum ging, die Eurohilfen ganz auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit (vor allem zwischen Berlin und Paris) aufzubauen. Die Kommission und das EU-Parlament sollten dabei stets möglichst umgangen werden, was den Regierungschefs (und ihren Beamten in den Hauptstädten) die ganze Macht sicherte.

Eurorettungsfonds, Troika, strikte Sparmaßnahmen im Gegenzug zu Kredithilfen, das alles trug wesentlich die Handschrift der Kanzlerberater in Berlin. Und Juncker war dort seit 2010 wenig beliebt, weil er als Eurogruppenchef sich vehement dafür eingesetzt hatte, die überschuldeten Südländer nicht zu überfordern und auf "weichere“ Sparmaßnahmen und Krediterleichterungen zu setzen.

Dieser Hintergrund könnte erklären, warum die deutsche Kanzlerin zwei Tage nach der Wahl beim EU-Gipfel Dienstag in Brüssel so unentschieden auftrat, als es darum ging, wie man nun weiterhin vorgehen sollte mit Juncker. Merkel war ursprünglich ebenfalls skeptisch gegenüber der Idee, bei den EU-Wahlen einen gemeinsamen EVP-Spitzenkandidaten aufzustellen. Aber sie hatte sich dann im Wahlkampffinale in Saarlouis doch ganz auf die Seite Junckers gestellt.

Umso auffälliger war, wie sehr sie nur Tage später beim EU-Gipfel in dieser Frage wieder lavierte. Das Präsidium des Europaparlaments hatte die Regierungschefs nur wenige Stunden vor Beginn der Sitzung stark unter Druck gesetzt. Mit ausdrücklicher Unterstützung des bei der Wahl unterlegenen SP-Kandidaten Martin Schulz forderten die fünf wichtigsten Fraktionen den Gipfel auf, namentlich Juncker umgehend als Kommissionschef zu nominieren.

Darauf schien Merkel nicht vorbereitet zu sein. Sie war ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass die Empfehlung des EU-Parlaments etwas allgemeiner ausfallen würde, die Regierungschefs erst zu einem späteren Zeitpunkt über die Nominierung des nächsten Kommissionspräsidenten entscheiden würden. Genau das hatte Juncker selbst auch erwartet, wie er in einem ausführlichen STANDARD-Interview vor einer Woche sagte. "Sie wurde kalt erwischt“, sagt ein Teilnehmer des Treffens der EVP-Regierungschefs, die sich unmittelbar vor dem EU-Gipfel in Brüssel getroffen hatten.

Offenbar ist am vergangenen Dienstag in der Kommunikation zwischen dem Präsidium des Europäischen Parlaments (das zu Mittag tagte), dem Treffen der EVP-Spitzen und dem EU-Gipfel aller Staats- und Regierungschefs am Abend etwas gründlich schiefgegangen. Zentrale Figur zwischen allen diesen Ebenen ist jedenfalls Van Rompuy. Er verhandelt einerseits stellvertretend für die EU-Regierungschefs mit dem Parlament direkt. Andererseits nahm der frühere belgische Premier als EVP-Mitglied beim Parteicheftreffen ebenso teil wie beim EU-Gipfel, den er ja leitet und (mit dem Deutschen Corsepius) vorbereitet.

Was ist also in diesen Stunden am Dienstag geschehen? Aus den geheimen Sitzungsprotokollen des EU-Gipfels, die dem STANDARD vorliegen, aber auch aus dem Verlauf der Sitzung der EVP-Regierungschefs unmittelbar davor, lässt sich zweierlei ziemlich deutlich ablesen.

Erstens: Van Rompuy hat als Ständiger Präsident des Rates den sehr konkreten Vorschlag des Europäischen Parlaments, Juncker sofort zu nominieren, von Anfang an wegzudrücken versucht. Und er hat sich selber als Hauptverhandler für die nächsten Wochen bis Ende Juni ins Zentrum gerückt, sowohl über die Inhalte als über die Personalfragen.

Zweitens: Merkel hat in beiden Sitzungen – sowohl bei der EVP als auch dann beim EU-Gipfel vor allen Regierungschefs – zwar erklärt, dass sie nicht für eine rasche Entscheidung sei. Sie wollte sich nicht drängen lassen, wies darauf hin, dass man nun in einen Konsultationsprozess über ein ganzes Personaltableau eintreten werde. Die meisten Regierungschefs vertraten diese Meinung auch.

Aber Merkel hat – in beiden Sitzungen – nie gesagt, dass sie eine Wahl von Juncker ad personam zum Kommissionschef irgendwie ablehnen oder verhindern könnte. Im Geheimprotokoll des Gipfels heißt es dazu lapidar: "Deutschland (Merkel) macht deutlich, dass sie Juncker unterstützen könnte, der der EVP angehört.“

Der Eindruck in der Öffentlichkeit, dass die Kanzlerin Juncker nicht unterstützt, ist erst bei der Pressekonferenz nach dem EU-Gipfel entstanden. Da wurde Merkel von deutschen Journalisten vor allem "gegrillt“ und dazu befragt, warum die Regierungschefs (und sie) sich nicht sofort eindeutig zur Nominierung Junckers entschieden hätten. Sie verwies dann wortreich auf das im EU-Vertrag vorgesehene Procedere erneut darauf, dass es "keinen Automatismus“ für den Luxemburger gebe, warum und wie die Regierungschefs dem Vertrag nach ihre Rolle zu spielen hätten und sie selbst auf einen „funktionsfähigen Rat“ Wert lege, sprich eine Isolation Camerons vermeiden wolle.

Daraufhin machte erstmals das böse Wort vom Wahlbetrug die Runde, von einer demokratischen Farce, wie es vor allem in deutschen Medien in den vergangenen Tagen hieß. Andere Beobachter kamen zu einem ganz anderen Schluss: Eine rasche Entscheidung sei nie geplant gewesen, alle hier spielten auf Zeit, nur das Parlament prescht vor.

Wesentlich aufschlussreicher jedoch, warum der Streit um Juncker dieses Ausmaß angenommen hat, ist aber der Verlauf der Sitzung der EVP-Chefs vor dem EU-Gipfel. Dabei habe sich zwischen Van Rompuy und Juncker selber (der am Treffen naturgemäß teilnahm) ein regelrechter Krieg der Worte um die Frage entwickelt, wie das weitere Procedere sei.

Der Ratspräsident habe ausladend erklärt, dass er jetzt zunächst einmal mit den Regierungschefs und dem Parlament über das künftige Arbeitsprogramm der nächsten Kommission und deren Personalwünsche austauschen wolle. Den Hinweis von Juncker, über welche Personalvorschläge er denn jetzt noch verhandeln wolle, wo doch nach der Wahl nun alles klar und er der gemeinsame Kandidat der EVP sei, habe Van Rompuy ignoriert, berichten Teilnehmer.

Von den anwesenden EVP-Chefs haben sich nur zwei direkt gegen Juncker ausgesprochen: der Schwede Fredrik Reinfeldt aus prinzipiellen Gründen und der Ungar Viktor Orbán. Alle anderen hätten sich eindeutig zu Juncker als nächstem Kommissionschef bekannt, auch ÖVP-Chef und Vizekanzler Michael Spindelegger. Merkel habe erklärt, dass sie gegen eine sofortige Abstimmung beim EU-Gipfel sei.

Beim EU-Gipfel danach sprachen sich dann aber nicht so sehr die christdemokratischen Regierungschefs dafür aus, den Sack zugunsten Junckers sofort zuzumachen, sondern eher die Sozialdemokraten. Nur der konservative Portugiese Passos Coelho machte nochmals Druck für Juncker: "Portugal (Coelho) ging einen Schritt weiter und sprach sich dafür aus, dass der Rat Juncker noch an diesem Abend als Kandidat bestätigt.“ Und weiter im Geheimprotokoll: "Dieser Vorschlag erhielt nicht sehr viel Unterstützung.“

Van Rompuy schlug dann am Ende vor, was er der Presse erzählen werde, worüber es keine lange Debatte mehr gab. Er wird nun zunächst einmal mit den neuen Fraktionschefs im EU-Parlament sprechen. Das könnte für Van Rompuy gleich einmal unangenehm werden. Denn Martin Schulz, der SPE-Spitzenkandidat, der nun vehement für Juncker eintritt, wird sein Amt als Parlamentspräsident zurücklegen und (wieder) SPE-Fraktionschef werden, als Nachfolger von Hannes Swoboda. Und in der EVP wird Joseph Daul als Fraktionschef abtreten und wahrscheinlich vom CSU-Abgeordneten Manfred Weber ersetzt. Der ist – wie seine ganze Fraktion – ein unbedingter Anhänger der These, dass niemand anderer als Wahlsieger Juncker Kommissionspräsident werden darf. Ein deutsches Drama in gewisser Weise.  (derStandard.at, 31.5.2014)