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Vor hundert Jahren: Beim Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 wurden der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gemahlin von Gavrilo Princip erschossen. Die Tat war der Auslöser für die "Julikrise", die dann zum Ersten Weltkrieg führte.

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Ich sehe schon, es werden Augen gerollt, es wird geseufzt. Schon wieder dieser Erste Weltkrieg, höre ich Sie sagen. Immerhin wird derzeit wirklich überall davon berichtet. Die Zeitungen, das Theater, das Fernsehen sind bedeutungsschwanger aufgeladen mit diesem Krieg, der vor gefühlt ewigen Zeiten stattgefunden hat. Warum nun also noch so ein Text, genau hundert Jahre nachdem der österreichische Thronfolger erschossen wurde? Weil das Erinnern an schreckliche Ereignisse in der Geschichte präventiv gegen ein Wiederholen dieser wirken kann und ich dazu beitragen möchte.

Was genau war vor hundert Jahren? Mit einfachen Worten: ein äußerst angespannter europäischer Kontinent, ein einem Pulverfass gleichender Globus und eine rachsüchtige Weltbevölkerung, die sich nach einer großen Schlacht sehnte, die alles neu ordnen sollte, und diese auch bekam. 32 beteiligte Staaten, 17 Millionen Todesopfer, vier untergegangene europäische Großreiche, die Gründung zahlreicher kleiner Nationalstaaten, sowie die Auferstehung der Sowjetunion waren die Folge.

Nicht umsonst nennen ihn die Franzosen "la Grande Guerre", die Engländer "the Great War". Kein anderer Krieg war so verheerend wie dieser. 1918 bekam die Welt dann ihre gewünschte Neuordnung der Dinge, doch war sie mit dieser nicht so ganz zufrieden: Der Hass gegen die Monarchie wandelte sich in Hass gegen die Demokratie. Man wandte sich extremen politischen Lagern wie dem Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus zu. Antisemitismus wurde offen ausgeübt. All dies gründete erst in diesem vier Jahre andauernden blutigen Krieg von 1914 bis 1918. Unser gesamtes vorheriges Jahrhundert ist von ihm geprägt - und prägt uns noch heute.

Nur wie? Natürlich kann man jetzt vereinfacht sagen, Geschichte ist eine Aneinanderreihung von Ereignissen, die immer alle im Kontext zueinander stehen. Der deutsch-französische Krieg, die Gründung des Deutschen Reiches 1871 im Versailler Spiegelsaal, die Einverleibung Elsass-Lothringens, die Annektierung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn, die Balkankrise, die Balkankriege, der Größenwahn des deutschen Kaisers in Hinblick auf die Kolonialpolitik und schließlich das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914.

All dies sind Ereignisse, die eben zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten, um nur ein paar zu nennen. Das Ende des Großen Krieges, die Versailler Friedensverträge - eine Genugtuung der Siegermächte und völlige Erniedrigung der Verlierer - waren der Nährboden für Keime des Hasses, die in Form von Hitler und Stalin noch größer emporsprossen, welche abermals die ganze Welt in einen Krieg führten, nach dem erneut der europäische Kontinent in Trümmern lag und beinahe eine gesamte Generation, ganze Ethnien dem Erdboden gleichgemacht wurden. Scheinbar schien die Welt vergessen zu haben, wie verheerend der Krieg davor schon war. Doch nicht so nach dem Zweiten Weltkrieg: Nie wieder sollte es auf europäischem Boden erneut zu einem so katastrophalen Ereignis kommen.

Dem Schrecken dieses zweiten Krieges haben wir es zu verdanken, seit bald genau siebzig Jahren in Frieden leben zu dürfen. Und selbst dies haben wir vierzig Jahre lang nur im Schatten der Angst vor dem Ausbruch eines dritten Weltkrieges getan. Die Welt war damals in zwei Blöcke geteilt, die ihre Atomwaffen aufeinanderrichteten. Nun Vergangenheit. Dieses Jahr feiern wir 25 Jahre Ende jenes Kalten Krieges. Brüderlich einig durften wir uns 1989 in die Arme fallen, den Eisernen Vorhang zerreißen und zueinanderfinden. Die Sowjetunion und damit der gesamte Ostblock ist in seine Einzelteile zerfallen, die westlichen Werte von Demokratie und Freiheit haben sich durchgesetzt. Die schöne Erinnerung daran wird alljährlich medial wiederholt - zum Glück.

Ich gehöre schon einer Generation an, die dieses freudige Ereignis nicht bewusst erlebt hat, einer Generation, die teilweise zu diesem Zeitpunkt gar nicht geboren war. Ich werde dennoch stets am 3. Oktober mit den Bildern von glücklichen Menschen auf der Mauer konfrontiert und bin zu Tränen gerührt. Überwältigt von Emotionen, die vierzig Jahre lang unterdrückt wurden und sich nun endlich frei entfalten durften - in Einigkeit und Recht und Freiheit.

Im Jahr der Jubiläen

Wir scheinen im Jahr der Jubiläen zu sein, denn dieses Jahr gedenken wir auch des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren, werden an dessen Schrecken erinnert und an Gräueltaten der menschlichen Spezies, die im Ersten Weltkrieg wurzelten. Es war ein äußerst bewegtes Jahrhundert in der jüngsten europäischen Geschichte, deren wir uns stets erinnern sollten. Damit zukünftige Generationen aus unseren vergangenen furchtbaren Taten lernen, um solche unwiederholbar zu machen, um nie zu vergessen, was Menschen für diesen Frieden getan haben.

Warum lernen Menschen nicht aus der Geschichte? Eine Frage, die ich mir selbst oft stelle und einfach nicht zu beantworten weiß. Wahrscheinlich, weil sich der Mensch unter Gleichgesinnten am wohlsten fühlt und nicht unter seinesgleichen - sprich unter gleichen Nationalitäten. Zu wenig sehen wir uns nur als Menschen, machen Unterschiede, wo im Grunde genommen keine sind. Kein Wunder also, dass es zum jüngsten Krieg auf europäischem Boden kommen konnte, dem Jugoslawienkrieg. Und schließlich drohte auch die EU noch kürzlich, durch die Krise bedingt, wieder in ihre Einzelteile, in Nationalstaaten zu zerbrechen, wie einst Österreich-Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg.

Eigentlich traurig, dass erst ein Aggressor von außen unsere westlichen Werte von Freiheit, Gleichheit und Frieden bedrohen muss, um uns wieder unsere Gemeinsamkeiten vor Augen zu führen. Und selbst hier schreit es nach einer Wiederholung von Geschichte: Erst Russlands Anti-Homosexuellen-Gesetz, die Olympischen Spiele in Sotschi, die Annektierung der Krim sowie die Ereignisse in der Ostukraine. All dies scheint doch schon einmal da gewesen zu sein.

Die Frage ist lediglich, ob sich die ganze Geschichte wiederholen wird. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre 25 Jahre lang auf den Pausenknopf gedrückt worden, und der Kalte Krieg gehe nun einfach weiter, komme dann jedoch zu dem Konsens, dass es heute um etwas anderes geht. Schließlich ist Europa nicht mehr in zwei Blöcke geteilt, ist geeint, hat sogar ehemalige Sowjetrepubliken wie die baltischen Staaten unter den Schutzschirm der EU gestellt. Nein, hier geht es um Werte. Konservative gegen Liberale. Dass auf das russische Säbelrasseln mit europäischer Diplomatie geantwortet wird, lässt mich auf eine Lösung des Problems hoffen.

Schließlich steht Europa für Frieden, zu dessen Wahrung die EU gegründet wurde. Winston Churchill ging nach dem Ende des Zweiten Weltkriege sogar noch weiter und träumte von den Vereinigten Staaten Europas. Natürlich sind wir noch weit davon entfernt, eben weil in der Union noch zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich unterschieden wird.

Bedeutender Nichtangriffspakt

Doch trotz dieser vermeintlichen Unterschiede leben wir in einem Bund mit dem weltweit größten Friedensvertrag. 28 Staaten, die kulturell verschieden sind, gelang es, den bedeutendsten Nichtangriffspakt zu schaffen. Das konnte seinerzeit nicht einmal Bismarck mit seiner ausgeklügelten Bündnispolitik vollbringen. An uns liegt es nun, dieses Bündnis in die Zukunft zu tragen und weiter zu festigen, statt es aufgrund wirtschaftlicher Diskrepanzen zu destabilisieren.

Ich bin nicht so gutgläubig und bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass dieses Bündnis lediglich auf Basis wirtschaftlicher Interessen zustande kam, klar. Doch gerade jetzt zeigt sich, dass dieses geeinte Europa für viel mehr steht. Es steht für eine Welt des Friedens, der Toleranz und der Freiheit, die es um jeden Preis zu verteidigen gilt - selbstverständlich auf diplomatische Weise. Denn so etwas wie den Ersten Weltkrieg vor genau hundert Jahren braucht dieser Kontinent nicht. Darum das Erinnern - um nicht zu vergessen, um künftigen Generationen weiterhin ein Leben in Frieden zu ermöglichen. (Thomas Perle, Album, DER STANDARD, 21./22.6.2014)