Die "bezahlte Überholspur" ist wohl die beliebteste Metapher, um das komplizierte Konstrukt der Netzneutralität zu erklären: Während bislang alle Internetdaten als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer den Datenhighway benutzen – und gleichberechtigt auch ab und zu im Stau stecken – sollen künftig eigene Spuren für zahlungswillige Unternehmen eröffnet werden, um deren Daten direkt und extra schnell an ihre Kunden zu liefern. Um in der Metapher zu bleiben: Das wäre so, als gäbe es eine eigene Autobahnspur für BMW- oder Audi-Fahrer, die dafür auch gerne mehr für ihr Automobil bezahlen.
Google, Netflix und Co mischen in Infrastruktur mit
Das Problem an der durchaus einleuchtenden Metapher: Die sogenannte Überholspur ist längst Realität – und zwar in Form von sogenannten "Peering“-Servern und "Content Delivery Networks“, die von Google, Facebook und Netflix in die Infrastruktur der Internet-Serviceprovider eingebaut werden. Dabei helfen mittlerweile milliardenschwere Unternehmen wie Akamai, das sogar für bis zu 30 Prozent des gesamten Web Traffics verantwortlich ist. Unter den Kunden der US-Firma, deren Name auf Hawaiianisch „Klug“ bedeutet, ist auch Facebook – das wurde dank der Klage des Datenschützers Max Schrems bekannt. Akamai sorgt im Auftrag des sozialen Netzwerks dafür, dass Videos und Fotos schnell zu den Nutzern gelangen, indem Server überall auf der Welt platziert werden. Fast alle großen US-Firmen haben Direktverbindungen zu den Internetserviceprovidern oder Partnerschaften mit Content Delivery-Unternehmen:
Schneller zum Kunden
Beispiel YouTube: Es gibt unzählige Server im Content Delivery Network, auf dem gewisse YouTube-Videos geladen sind. Dabei gibt es natürlich Server, die Nutzer aus beispielsweise Wien schneller als Nutzer aus Bregenz oder gar San Francisco erreichen. Will ein Nutzer nun ein Video abrufen, wird zuerst nachgesehen, ob der nächste Server im Content Delivery Network dieses Video bereits auf Vorrat hat. Andernfalls lädt er das Video direkt aus dem Hauptserver. So wird das "reguläre“ Internet de facto umgangen:
Wettbewerbsvorteil oder Service?
Das verschafft den IT-Giganten natürlich Vorteile gegenüber der Konkurrenz – allerdings würde das Nutzungsverhalten der Kunden ein Internet wie Anfang der 1990er Jahre wohl nicht mehr erlauben. Denn mittlerweile sind lediglich 30 Services für mehr als die Hälfte des gesamten Datenvolumens weltweit verantwortlich, in den USA gehen abends sogar rund 34 Prozent aller Datenströme (!) auf das Konto von Netflix. Und das, obwohl sich 4K-Streaming, das mit rund 25 Mbit/Sek zu Buche schlägt, noch nicht durchgesetzt hat. Sandvine hat die Daten für die zweite Jahreshälfte in einem Report veröffentlicht:
Falsche Vorstellungen
"Die Überholspur ist einfach die Art und Weise, wie das Internet mittlerweile funktioniert“, erklärt etwa Craig Labovitz gegenüber Wired. Laibovitz beschäftigt sich als CEO von DeepField Networks mit der Infrastruktur des Netzes. Auch Dave Taht, Entwickler von Open-Source-Netzwerklösungen, sieht die Sache ähnlich. Er beklagt in der Debatte um Netzneutralität „falsche mentale Modelle“ in der Diskussion: "Viele Punkte sind künstlich, Ablenkung und falsch“.
Stau durch House of Cards?
Denn immer wieder warnen diejenigen, die Telekomprovidern die Einrichtung von "Spezialdiensten“ erlauben wollen, vor Stau und Überlastung durch die großen IT-Services. So etwa auch der EU-Abgeordnete Paul Rübig (ÖVP). In einer Aussendung sprach er sich für "Verkehrsregeln“ im Netz aus und warnte: "Wenn alle anfangen, 'House of Cards‘ runterzuladen, darf das nicht dazu führen, dass der normale Surfer im Stau steht oder dass Notrufe nicht mehr zugestellt werden können.“
Entlastung eben durch große Services
Genau das verhindern aber die bereits existierenden Überholspuren von beispielsweise Netflix, die eben den normalen Internetverkehr ent- statt belasten. Und zwar schon seit Jahren: Google machte bereits Mitte der 2000er-Jahre den Anfang und stellte Router in Datenzentren großer Internetprovider auf, später folgten Content Delivery Networks für das erworbene YouTube. In den Jahren darauf kopierten dies dutzende Firmen, die ihre CDNS meist von Spezialanbietern wie eben Akamoi oder Level 3 einrichten lassen. Eigene Netzwerke sollen neben Google nur Netflix, Facebook und angeblich Apple besitzen. Auch der ORF setzt während der Fußball-WM auf externe CDNs, um beispielsweise Livestreams ruckelfrei zu den Zusehern zu bringen. Auf Anfrage des WebStandard erklärt der ORF, ansonsten das APA-IT-Netzwerk in Anspruch zu nehmen - ganz normal für einen Streaming-Anbieter.
Telekomunternehmen wollen plötzlich Geld
Warum also plötzlich die große Aufregung um die Abschaffung der Netzneutralität? Vereinfacht gesagt realisierten die großen Telekom-Anbieter in den letzten Jahren, dass die Content Delivery Networks eine extrem gewinnträchtige Branche sind. Anstatt neutral zu fairen Deals die Installation von Content Delivery Networks in ihrer eigenen Infrastruktur zu erlauben, wollten sie plötzlich entweder viel Geld dafür oder selbst CDNs einrichten und weitervermieten. Besonders in den USA fehlt dem Internet Service Provider (ISP)-Markt allerdings der Wettbewerb, dort regieren lediglich Verizon, Comcast und Time Warner Cable – wobei letztere sogar fusionieren wollen.
Warnung vor Monopol der Provider
Entscheideten nun Verizon und Comcast-Time-Warner allein über die Vergabe von CDNs, könnte ein Machtkampf entstehen, den parallel gerade Amazon und Buch- und Filmverlage ausfechten. So sollen die Provider laut Netflix absichtlich deren Server verstopfen und Staus provizieren, um Kundenärger auf Netflix zu projizieren. In diesem Licht sind auch Meldungen über Verstopfung von Internetknoten durch Netflix zu betrachten. Um es in den Worten des US-Komikers John Oliver zu sagen: "Wir sollten nicht von einem Aus der Netzneutralität sprechen, sondern von der Vermeidung von Provider-'Fuckery‘“.
Auch Thomas Lohninger von der Initiative für Netzfreiheit sieht durch CDNs "keine Verletzung der Netzneutralität“, problematisch werde es vielmehr, wenn Internetservice-Provider "von beispielsweise Netflix oder den eigenen Kunden noch extra Geld“ verlange. Denn genau das plant die US-amerikanische Regulierungsbehörde FCC. Auch in der EU hätten Internetprovider die Erlaubnis erhalten sollen, selbst über CDNs zu entscheiden: So war schon lange gemunkelt worden, dass diese Möglichkeit, Geld zu verdienen, ein "Kuhhandel“ für das Aus der Roaming-Gebühren hätte werden sollen. Der Gesetzesentwurf wurde allerdings vorerst vom EU-Parlament entschärft. Aber auch in den USA ist der Kampf gegen ein Zwei-Klassen-Internet, so die passendere Metapher, noch voll im Gang. (fsc, derStandard.at, 13.7..2014)
Anmerkungen: Die Internetprovider UPC und A1 konnten trotz mehrmaliger Nachfrage keine Informationen zu Content Delivery Networks in ihrer Infrastruktur bereitstellen.