Statt Klapperschlangen das "Handbook of North American Indians".

Foto: Klemens Renoldner

Vom Pazifik kommend durchquert der California Zephyr, ein bequemer Reisezug, die Schluchten der Rocky Mountains. Er verbindet die Städte San Francisco und Chicago und benötigt dafür 54 Stunden. Auf dieser Eisenbahnstrecke fuhr ich einmal durch den Westen der USA. Die Stadt Reno, im Bundesstaat Nevada gelegen, war meine erste Station. "Reno!" - so riefen sie mich damals im Gymnasium. Bis heute grüßen mich ehemalige Schulkollegen mit diesem Spitznamen. Nun wollte ich endlich "meine" Stadt kennenlernen. Vielleicht war in der "biggest little city in the world" das Glück zu machen?

Der innere Stadtbezirk, Downtown Reno, besteht aus zwei architektonischen Elementen: aus turmhohen Hotelmonstrositäten und aus gesichtslosen Parkhäusern. Zwischendrin kann man einige einstöckige Häuserzeilen entdecken, erbärmliche Souvenir-Shops, eine heruntergekommene Spaghetti-Bude und eine düstere Bar, in der keiner ein Bier trinken will. Woher sollte ich wissen, dass es sich bei Reno um einen der hässlichsten Orte der Welt handelte?

In Reno kann man natürlich auch den amerikanischen Glamour der 80er-Jahren entdecken. Bunte Poster, ungezählte Glühlämpchen, goldlackierte Portale weisen den Weg in die Spielkasinos. Hier hocken sie, die einsamen Ladys, von der Mühsal des Lebens gezeichnet, Durchschnittsalter siebzig Jahre. Sie werfen Münzen in blinkende Automaten und tippen mit Fingern auf Bildschirme, um die rollenden Bildchen zu stoppen. Ein Blick in die unfassbare Trostlosigkeit dieser weitläufigen Säle genügte, und mich verließ der Mut, abends an einem Poker- oder Roulette-Tisch mit einer Handvoll Dollars das Spiel zu wagen. An den Wochenenden seien die Kasinos, so wurde mir versichert, von tausenden Besuchern überfüllt. Ich aber kam an einem Dienstag in die Stadt.

Schlecht gelaunt und unschlüssig, wie ich meinen zweiten Reno-Tag herumbringen sollte, entdeckte ich morgens in der Center Street die Filiale der Washoe County Library. Während der flache Ziegelbau mit seinen gefalteten Glasrippen wenig einladend wirkte, wurde ich nach dem Eintreten von Grün geblendet. Die städtische Bücherei von Reno ist eine Symbiose von Palmenhaus und Bibliothek. Mächtige Bäume wachsen aus dem Kellergeschoß hinauf bis unter das Glasdach. Auf vier Etagen sind ringsherum die Bücher aufgestellt.

Den ganzen Mittwoch saß ich in der Washoe County Library von Reno und studierte, einer plötzlichen Eingebung folgend, in Handbüchern, Bildbänden und Biografien die Geschichte der Indianer Nordamerikas. Buffalo Bill, Sarah Winnemucca, die Schlacht von Little Bighorn ... meine langjährigen Karl-May-Studien erfuhren in Nevada ein gigantisches Update. Und ich spürte: Bibliotheken sind Orte des Glücks.

Jetzt werden Sie fragen: Darf man in den Lesesälen vielleicht tanzen? Kann man auf den Gängen Tennis spielen? Nein. Aber man erfährt Dinge, mit denen man nicht gerechnet hat. So erging es mir schon als Student in der Salzburger Universitätsbibliothek. Ich nahm ein Lexikon zur Hand und entdeckte im Regal darüber das "Historische Wörterbuch der Philosophie". Die wochenlange Schreibblockade bei meiner Doktorarbeit fand ein Ende. Bibliotheken drücken dem Suchenden die richtigen Bücher in die Hand.

Letzten Oktober erlebte ich es erneut. In der New York Public Library hatte ich unbekanntes Material für meinen Roman gefunden. Ich ließ das geplante Besichtigungsprogramm sausen und saß eine Woche während der Öffnungszeiten von 10 bis 18 Uhr im Lesesaal der NYPL, um das letzte Kapitel meines Manuskripts neu zu schreiben.

Zweimal, dreimal in der Woche suchte ich in Berlin, wo ich sechs Jahre lebte, die Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße auf. Ich staunte über die vielen jungen Menschen, die hier lesen, nachdenken, flüstern, wild in ihre Laptops tippen und schließlich über ihren Notizzetteln einnicken. In der Staatsbibliothek fühlte ich mich selbst wie ein Student, einer, der das Leben noch vor sich hat.

Natürlich hätte ich an diesem heißen Mittwoch in Reno über den Martin Luther King Highway bis an den Silbersee und weiter hinauf in die Sierra Nevada fahren können. Wo mich vielleicht eine Klapperschlange attackiert hätte. Stattdessen las ich voller Begeisterung im "Handbook of North American Indians".

Ich denke oft an Reno. An die einsamen Ladys vor den blinkenden Geldmaschinen. An die Namen der Kasinos wie "Golden Phoenix", "Bonanza", "Eldorado" oder "Reno Nugget". An die grün überwucherten Betonschüsseln zwischen den Bücherregalen der Washoe County Library. Es sind die Bibliotheken, die einen retten. (Klemens Renoldner, Album, DER STANDARD, 28.(29.6.2014)