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Jüngst gefundene Grabkreuze von im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten auf dem Lemberger Friedhof.

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Gott, mein Lviv, stieß es zwischen schmalen Lippen hervor. Ein unterdrücktes Rufen. Auf der Flucht aus Lemberg ist sie mir zugelaufen, klärte die Mutter auf, eine Großtante, eine Fremde. Diese Fremde und ihre zwei Töchter im jugendlichen Alter hatten in unserem vom Krieg geleerten Haus ohne Männer Quartier bezogen. Vorübergehend, sie hatten die Aussicht verstellt, waren nicht lange gelitten worden im Haus, wohnten schon bald in der anderen Gasse. Ein leerstehendes Judenhaus. Zur Verfügung gestellt von der Gemeinde: kleiner Hof mit Nussbaum. Zimmer. Küche. Kammer. Plumpsklo. Kahl und kalt, im Winter nicht zu beheizen. Sie fror in dem Haus. Ihre rotblauen Hände. Egal, das schien ihr egal zu sein, irgendwie alles. Alles lag hinter ihr, herum in ihr, in ihrem Gesicht. Böses erlebt, stieß es zwischen den Lippen hervor. Wo war sie? Wer? Wann wird sie uns wieder besuchen?

Hab die Mila zurücklassen müssen, seufzte es, das Gesicht. Es hatte sich nie ohne Kopftuch gezeigt; der hiesigen Tracht angepasst, um weniger fremd zu sein. Ein zerfurchtes Gesicht, nie ein Lächeln. Sah alt aus. Kein Wort Dialekt aus dem Mund. Ein gehacktes, exaktes Deutsch. Die gerade Nase, die Augenpartie ähnelte jener der Mutter, war gelegentlich das Gesicht der Jüngeren, das wohl bessere Zeiten gesehen hatte. Wenn auch keine guten: abgöttisch geliebte Söhne, der Stolz des Vaters, man grüßt ihn, er zieht den Hut.

Dann der Riss durch die Idylle. Zerstörte Aussichten und Lebenspläne. Vermisste. Gefallene. Das Bezahlen fing an. Hört bis heute nicht auf. Das Gesicht der Tante spiegelte diese Zeit. Die Risse des Ersten Weltkriegs quer durch die neue Heimat Galizien. Ich war keine zehn, als du von hier weg bist, erklärte die Mutter. Dienstmädl warst in Wien, das hättest du bleiben sollen. Gehst nach Lemberg. Mit einem "falschen Polaken"!

Wer war diese Frau, die Levko hieß? Habe den alten Franz Joseph gesehen. Im Schönbrunner Schlosspark, sagt sie. Wo du dir deinen Polaken angelacht hast, klärte die Mutter auf. Kein Dienstmädl, verteidigte sich die Tante, war Pflegerin einer blinden Gräfin, Vorleserin. Habe mich in den Levko verliebt. Galizier. Pole. Offizier. Haben geheiratet und sind nach Lviv. Wo den Polacken schon Frau und Kind erwartet haben. Bigamist, nennt man das, ätzte die Mutter. Hier ist das strafbar, aber dort, in dieser rückständigen Gegend ...

Die spärlich verlorenen Sätze der Tante. Ihr Leben in Lemberg. Ein gutes Leben? Anfangs Ausgrenzungen. Hielt ich aus. Das Leben mit einem Bigamisten, ja. Ein Nebeneinander. Ruthenen. Juden. Polen. Türken. Und wir. Und römisch-katholisch, und ukrainisch-orthodox, und ... Was für ein Leben, Lemberg. Klein-Wien. Liebte es mehr als Wien. Universitäten. Museen. Theater, war oft mit Mila im Skarbek. Und du? Hast du je gelesen? Ein Buch? Niemals, behaupte ich. Gelegentlich, ätzte die Tante sogar zurück: Ich ja. Immer, auch in Lviv. Klar, Joseph Roth sagt dir nichts ...

"Die habsburgischen Sonnenstrahlen reichten nach dem Osten bis zur Grenze des russischen Zaren", lese ich im Radetzkymarsch. Unvorstellbar, denke ich. So weit gehe ich nicht. Es ist Ende Mai 2014. Ich denke Lviv. Ich bin in der ehemaligen Garnisonsstadt Lemberg, in der Hauptstadt des Kronlandes. 1918 fiel Galizien an Polen. Und nun das neue Problemfeld im Osten, die Ostukraine: Kiew und Moskau gegeneinander. Kampfhandlungen. Armeeeinsätze. Tote. Täglich in die Waagschalen geworfen. Wie sie ausschlagen werden? Wieder ein Krieg?

Die Altstadt Lemberg: Weltkulturerbe, ein imposantes Nebeneinander aus Klassizismus, Renaissance, Jugendstil, Rokoko, Art déco, steht liebevoll restauriert da (bloß zwei Kräne, paar schwarze Fassaden), so man nicht in die Innenhöfe blickt. Ist es mir fremd. Ist es mir vertraut. Zurückversetzen. Welche Zeit. Welches Jahr. Glück. Ist sie es gewesen. Sie ging diese Wege mit ihren Kindern. Einen Mantelstoff kaufen für Mila zum Selbernähen in der Virmenska-Straße. Schulhefte für Sophie und Anna, Bücher. Ich nannte sie Tante Levko. Ich verehrte und liebte sie. Nicht zu sagen, was die Frau mir bedeutet hat. Es war nichts zu sagen gewesen. Dass da noch etwas anderes war als Mutters Pläne mit ihrer Nachzüglerin.

Böses erlebt, sagt die Tante

Lviv. Drei Töchter waren dem Leben entsprungen. Ein gutes Leben. Ein hartes. Der nächste Krieg. 1939, die Annexion Polens durch die Deutschen. Die Teilung. Die Russen in Ostgalizien. Angst und Bedrohung. Plünderungen. Vorbei mit dem Leben. Den Levko zuletzt Frühjahr 1940 gesehen. Tausende sind verschwunden. Nicht nur die Juden. Verschleppt. Ermordet. Die Deutschen, die Wehrmacht. Die Ruthenen. Jeder gegen jeden. Lemberg im Frühsommer 1944 in Händen der Russen. Hass auf alles Deutsche. Mit zwei Töchtern aufraffen müssen. Mila, knapp neunzehn. Hat sich verweigert. Wollte nicht. Gott, diese Flucht. Meine Kinder! Die Hände im Schoß, die blaue Schürze, hier Viata genannt, glattziehend, die verwaschene, gestärkte, gebügelte Barchentbluse. Diese Flucht. Die rotblauen Arbeitshände wie knochige Muscheln als Schutz über den Bauch gelegt. Böses erlebt. Was, Tante Levko? Böses, Kind. Das Kind hing an dem Strichmund, am leicht bebenden Mund über dem Kinn. Als ob das Kinn zwischen den zwei tiefen Kerben einzig von der Unterlippe gehalten sei. Sie hat mich in stockdunkler Nacht aus dem Bett geklopft. Du musst uns nehmen, hat sie gesagt, Herbst ist es gewesen, 1944, erklärte die Mutter. Standen da, drei Häufchen Elend.

Hauptbahnhof Lviv: ein imposantes Jugendstilgebäude. Sie steht mit den Töchtern auf dem Perron. Hin und her wogende Menschenmassen. Sie denkt Mila, schiebt die Töchter hinauf, drängt sich nach. Kein Sitzplatz. Die Töchter sitzen neben dem Koffer am Boden. Mehr Eigentum ist nicht. Angst und Verstörung. Die Festungsstadt Przemysl ist passiert. Der Tatarenhügel, ein Totenhügel: Friedhöfe der österreichisch-ungarischen Soldaten. Die Toten der polnischen Armee gegen die Ukraineraufstände. Die toten deutschen Soldaten. Am San entlang geht die Bahnlinie, danach an der Weichsel. Im Abteil Dunst und Gestank. Gedränge. Geschiebe. Der Zug steht. Raus! Partisanen. Ruthenen. Russische Uniformen. Gewehre. Schüsse, erstickte Hilferufe ... Durchwühltes Gepäck. Zwei Säckchen mit Geld in den Schuhen der Töchter. Und wo ist Sophies Uhr. Chaos und Verstörung in ihren Gesichtern. Ewigkeiten vergehen. Dann zieht am Zugfenster die Nacht vorbei. Das entfernte Auschwitz zwingt die Gedanken. Ob an der ehemaligen schlesischen Grenze die schönen Höfe noch stehen ... Nicht denken. Nichts. Nichts. Wieder Halt. Raus. Alles raus. Banges Warten. Hetzen. Ein anderer Zug. Ob einer kommen wird. Das Geld ist knapp. Zu zwölft auf einem Lastwagenanhänger durchs halbe Mähren. Durchgerüttelt. Erschöpfung. Fußmärsche. Angst.

Wer war diese Frau, die in unserem Familiengrab bestattet liegt. Eine schwer Traumatisierte. Aus heutiger Sicht. Damals war das kein Wort. Hat kein gutes Verhältnis zu ihren Töchtern gehabt, hieß es. Die Töchter wohl auch traumatisiert. Die Levko sei wie ein Stein gewesen, hieß es, nach dem Begräbnis. Man hatte sie nicht gemocht, die Fremde. Gott, hatte sie oft gestöhnt. Hielt aber nicht viel von ihm, man hatte sie kaum in der Kirche gesehen. Die Töchter bald weg. Verheiratet in den Nachbarorten, um nicht glücklich zu sein. Die Mila nie mehr gesehen.

Sing, Kleine, hatte sie gesagt, zum stumm gewordenen Kind. Angst, ich spüre sie, deine Angst. Auch ich habe Angst, aber du, Kleine, musst keine haben. Mit einer anderen Stimme hatte sie geredet, wenn sie mit der Kleinen allein war, sanft und leise: Hexen und Geister gibt's nicht, Kind, das kannst du mir wirklich glauben! Woher wusste sie? Die Angstgeister waren das Geheimnis des Kindes. Eine zugelaufene Fremde, die sah und wusste. Die Mutter wollte keinen Angsthasen neben sich. Nicht kindisch sein, hatte die Mutter erklärt. Und mit Hexen und Teufeln Angst gemacht. Geh, und sing, hatte die Fremde gesagt, besorgt um das Kind. Gelegentlich konnte sie reden. Schau auf dich, Kind. Lass dich hier nicht dumm machen. Dem Rat folgen. Luftholen. Ausatmen. Plötzlich war alles da: die Stimme, die Töne, die Vokale, die verloren geglaubten Lieder. Alles das, was auf halbem Weg steckengeblieben war, war da und benutzbar. Ein Gesang mit dem Wind war es gewesen. Und die Schwalben, die über das wogende Kornfeld gefegt waren, hatten lauthals miteingestimmt.

Auf der Flucht heimgewandert ins Fremde. Eigene. Ins Dorf der Kindheit und frühen Jugend. Das Ungarische noch immer präsent. Gelegentlich ein paar Töne auf Polnisch. Ein paar Lemberger Kochrezepte. Das Erinnern an sie. Unvergangen. (Dine Petrik, DER STANDARD, Album, 5.6. 7.2014)