Jan Egeland in einer improvisierten Zeltstadt im Bekaa-Tal im Libanon.

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"Die europäischen Staaten sollten die Kranken, Behinderten, Witwen mit kleinen Kindern oder Personen aus verfolgten Minderheiten aufnehmen", sagt Egeland.

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derStandard.at: Im Zusammenhang mit der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen sagten Sie in den Medien: "Einst waren die meisten Flüchtlinge auf der Welt aus Europa. Nun hat Europa offensichtlich vergessen, was Solidarität ist." Was wäre denn eine angebrachte Reaktion aus Europa auf den Krieg in Syrien?

Egeland: Die Forderung der Vereinten Nationen zu erfüllen und in einer ersten Reaktion 30.000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Die Antwort Europas war nämlich erbärmlich. Viele Staaten haben gar keine und manche nur wenige Flüchtlinge aufgenommen. Norwegen liegt etwa mit nur 1.000 aufgenommenen Syrern sogar unter den besten drei europäischen Staaten in Bezug auf die Einwohner. Das liegt daran, dass der Rest Europas komplett versagt hat. Eine winzige norwegische Quote wird somit groß.

derStandard.at: Inwiefern hat Europa versagt?

Egeland: In zwei Bereichen: Europa investiert nicht genug in die Entlastung der Nachbarstaaten – einige wenige Länder decken alleine die Kosten –, und Europa will nicht die Personen aufnehmen, denen schwer vor Ort geholfen werden kann. Die europäischen Staaten sollten die Kranken, Behinderten, Witwen mit kleinen Kindern oder Personen aus verfolgten Minderheiten aufnehmen. Und wenn man nicht einmal die nach Europa holt, sagt natürlich der Libanon: "Wie kann das sein, dass ihr fordert, dass wir unsere Grenzen offen halten, wenn ihr nicht mehr tut, uns zu helfen?"

derStandard.at: Außerhalb Syriens sind 2,8 Millionen Syrer als Flüchtlinge registriert. Die Dunkelziffer soll viel höher liegen. Welche Probleme gibt es im Zusammenhang mit der Registrierung des Flüchtlingsstatus?

Egeland: Es gibt viele Probleme. Jede Minute ist eine neue Familie gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Es passiert Tag und Nacht seit nunmehr drei Jahren. Das erste Problem ist, Syrien überhaupt zu verlassen. Für Palästinenser ist etwa die einzige Hoffnung, die Grenze in den Libanon zu überschreiten – alle anderen Grenzen sind dicht. Sind die Menschen dann im Land, braucht es oft Zeit und Geld, um als Flüchtling registriert zu werden.

Die Nachbarstaaten haben das Gefühl, mit dieser gigantischen Verantwortung von Europa, Asien und den USA allein gelassen zu werden. Aber Europa stelle ich an die Spitze meiner Liste an Versagern. Es übernimmt nahezu keinen Teil der Verantwortung.

derStandard.at: Die Vereinten Nationen fordern 6,5 Milliarden US-Dollar von der Weltgemeinschaft. Bis dato wurde noch nicht einmal die Hälfte gesammelt. Aber selbst wenn das geschehen würde: Wäre der Betrag hoch genug, um den Syrern zu helfen?

Egeland: Ich glaube, dass es sich bei dieser Forderung bereits um die Summe handelt, die zusätzlich zu den Beiträgen der Gastgeberländer benötigt wird. Die Türkei kommt zum Beispiel für die meisten Flüchtlinge alleine auf. Das Engagement von Jordanien, dem Libanon und dem Norden des Irak wird im Gegensatz dazu großteils von der internationalen Gemeinschaft getragen. Auch die Flüchtlinge selbst bezahlen viel aus ihren Ersparnissen, Familien und lokale Gastgemeinschaften geben zusätzlich einiges an finanzieller Hilfe.

derStandard.at: Welcher Anteil der Spendengelder erreicht tatsächlich die Flüchtlingslager und die Flüchtlinge?

Egeland: Ich würde riskieren zu sagen, dass es in dieser Situation eine winzige gute Nachricht ist, dass internationale Hilfe kosteneffektiver geworden ist und den Leuten besser helfen kann, als das jemals der Fall war. Jemand, der Geld spendet, sollte glücklich sein, dass es nun weniger Behördenwege gibt. Das liegt vor allem daran, dass viele NGOs Helfer aus der Region haben. Die bekommen ein sehr gutes lokales Gehalt und sprechen natürlich auch die Sprache der Betroffenen perfekt. Deshalb wird auch niemals eine große Zahl an Flüchtlingen nach Europa kommen; es ist schlichtweg zu teuer. Wir helfen so vielen Menschen besser, wenn wir sie nahe an ihrem Zuhause unterstützen.

derStandard.at: Beobachter sprechen vom jordanischen Flüchtlingslager Zaatari als einem Ort von Menschenhandel. Ist so ein Flüchtlingslager überhaupt der richtige Ort, um Flüchtlinge aufzunehmen?

Egeland: Ich glaube, dass etwas übertrieben wird. Wir von der Flüchtlingshilfe spielen eine Schlüsselrolle im Aufbau und der Organisation von Zaatari. Es gibt dort Schulen, Hilfsgruppen und Gemeinschaftsgruppen, die von eigens gewählten Personen organisiert werden. Aber: Ich würde dort nicht sein wollen. Es ist ein sehr trauriger Ort, weil die Menschen das Gefühl haben, ihre Zeit zu verschwenden.

Deshalb bringen wir die meisten Menschen nun bei Gastfamilien unter. Eines unserer großen Programme ist, die Menschen, die das Lager verlassen wollen, bei Gastfamilien unterzubringen. Wir unterstützen den Ausbau von bereits bestehenden Häusern im Libanon. Wir bauen kostenlos ein oder zwei Räume an das Haus an, wenn die Familien eine syrische Flüchtlingsfamilie für eineinhalb Jahre aufnehmen. Also nein, Flüchtlingslager sind nicht der beste Weg, sondern lokale Integration.

derStandard.at: Aufgrund der Kämpfe im Irak befinden sich rund 500.000 Iraker an den Grenzen zu den Nachbarstaaten. Der Libanon und Jordanien haben signalisiert, dass sie diese Flüchtlinge nicht einlassen werden. Wie wird das die Situation in der Region verändern?

Egeland: Wir brauchen wirklich keinen neuen Krieg in der Region. Wir sind im Moment sehr aktiv im Irak und kümmern uns um syrische und im Land vertriebene irakische Flüchtlinge. Ich denke, dass die meisten Menschen im Land Vertriebene bleiben und bei ihren Familien und Bekannten leben werden. Aber es können auch paradoxerweise Iraker auf der Suche nach Schutz nach Syrien gelangen. Ich bin sehr besorgt darüber, was durch einen weiteren Exodus passieren wird.

derStandard.at: Wenn Europa, die USA und Asien es verabsäumen, den Flüchtlingen aus Syrien zu helfen, was könnte mit der nächsten Generation von Syrern passieren?

Egeland: Ich befürchte, dass wir ihnen keine Hoffnung geben können. Das Wichtigste für die Jugend weltweit ist, daran glauben zu können, dass es besser wird. Wenn ich syrische Kinder frage, was sie einmal werden wollen, antworten sie: Ärzte, Lehrer oder Ingenieure. Die syrischen Kinder haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, aber sie werden es tun, wenn wir sie in miserablen Flüchtlingslagern behalten, so wie wir das mit vielen Palästinensern getan haben. Natürlich werden sie die zuvor genannten Berufe nicht mehr ergreifen wollen, wenn sie eingesperrt sind. Sie werden radikalisiert und wütend werden. (Bianca Blei, derStandard.at, 10.7.2014)