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Und plötzlich steht das Hab und Gut auf der Straße: In Spanien sind auch sogenannte Express-Delogierungen binnen zehn Tagen zulässig.

Foto: AP

Madrid/Granada - Frühmorgens um sieben Uhr am Freitag war es so weit. Anti-Aufruhr-Einheiten der Policía Nacional sperrten die Madrider Calle de Carabelos. Galt es doch die Familie des konservativen Ex-Politikers Jorge Vestrynge mit drei Kindern - sieben beziehungsweise acht Jahre alt und ein erst 20 Tage altes Neugeborenes - zu delogieren. Die Mutter und ihre älteste Tochter hatten sich in der Wohnung angekettet. Vergebens, wie auch der über soziale Netzwerke mobilisierte Spontanprotest.

Wie so oft hatte sich eine knappe Hundertschaft an Demonstranten der Plattform für Hypothekenkredit-Opfer (PAH) vor dem Wohnblock eingefunden, um die auf Weisung der baskischen Kutxabank gerichtlich angeordnete Zwangsräumung zu stoppen. Am späten Vormittag standen nur noch Waschmaschine, Herd sowie der spärliche Besitz der Delogierten in Plastiksäcken und Koffern aufgetürmt auf dem Gehsteig.

Trotz Wirtschaftswachstum viele Arbeitslose

Schicksale wie diese sind keine Einzelfälle im Krisenspanien, das laut Premier Mariano Rajoy vom Partido Popular (PP) "wieder auf Wachstumskurs" sei. In 1135 Fällen stoppte die PAH bislang mit Zivilcourage Räumungen. Mehr als 1180 Familien fanden Unterkünfte in Sozialwohnungen. Aber auch sieben Jahre nach dem Platzen der Immobilienblase steigen Zwangsdelogierungen weiter an, wie erstmals offizielle Zahlen des Statistikinstituts INE belegen.

Bis Ende März wurden 32.565 Wohnungen zwangsgeräumt -manche direkt von Pleite-Immobilienfirmen gepfändet, doch fast 19.000 Hauptwohnsitze von Privatpersonen -, ein Plus von 19,5 Prozent verglichen mit dem ersten Quartal des Vorjahres.

"Es sind skandalöse Zahlen, die das Scheitern der PP-Gesetze belegen", kritisiert die PAH per Aussendung. Da die Statistik keine Information zur Jobsituation oder Minderjährigen angibt, wirft man der Regierung vor, "Probleme unsichtbar zu machen". Express-Räumungsverfahren binnen zehn Tagen sind sogar gesetzlich verankert.

Leerstehende Bankenobjekte

Auch das "Gesetz zum Schutz der Hypothekenschuldner" von 2013, das nach Selbstmorden, Sozialprotesten und dem PAH-Volksbegehren mit mehr als einer Million Unterschriften beschlossen wurde, habe "null Effekt gezeitigt", empört sich Antonio Redondo von der PAH in Granada. "Damit ist niemandem geholfen, außer den Banken, die nun ihre Zahlen beschönigen können", klagt er. "Immer mehr werden obdachlos, während zahllose Wohnblöcke im Bankenbesitz leerstehen."

Primär fehle es an Arbeitsplätzen, weiß Redondo: Vom Job- zum Wohnungsverlust reichten drei Monate Ratenzahlungsverzug. Dann bleibe man auf den Schulden sitzen, die oft nach dem Ursprungswert und nicht nach dem deutlichen Preisverfall, den der Immobilienmarkt durchlebt, berechnet seien. Zuletzt häuften sich auch Forderungen an Gläubiger - meist Familienmitglieder. Exemplarisch führt Redondo den Fall einer 84-jährigen Frau an, die nun vor dem Verlust ihrer eigenen Wohnung stehe, nachdem sie für ihre Tochter bürgte.

EU-Kommission besorgt über "andalusischen Sonderweg"

Der "andalusische Sonderweg", die Banken zu enteignen, wenn diese Zwangsräumungen anberaumen, um die Wohnungen mit Sozialmieten zu belegen, wartet noch auf den Spruch des Höchstgerichts. Die Chance, dass das Gesetz durchkommt, wird von Experten als gering erachtet - und die EU-Kommission zeigte sich besorgt wegen des linken Vorstoßes aus Sevilla.

Santiago Martínez Ramos (56) aus Zujaira bei Granada verlor 2006 sein Haus an die damalige Bank Caja Granada, die nun in der Banco Mare Nostrum (BMN) integriert ist. Er stand auf der Straße. Ohne Hilfe von Freunden und Familie wäre die Situation ausweglos gewesen: "Damals gab es weder die PAH, noch waren Anwälte in puncto Hypothekenrecht geschult" , sagt er.

2008, als die Versteigerung anstand, war er bereits PAH-Mitglied und mobilisierte mit Mitstreitern eine Aktion, die einen Stopp erwirkte. Martínez kehrte ins Eigenheim zurück und blieb stur. "Seit damals zahle ich der Bank keinen Cent mehr", sagt er. Sein Hypothekenvertrag wurde für nichtig erklärt. Die Bodenklausel war missbräuchlich exorbitant hoch angesetzt.

Nun selbst als Aktivist tätig

Martínez' Fall wird in dritter Instanz verhandelt, aber er ist optimistisch, den Besitz seines Hauses bald "schwarz auf weiß" dokumentiert zu haben. Seit seiner Rettung durch die PAH ist er nun selbst für andere als "Vollzeitaktivist" im Einsatz. Mit der BMN sei mittlerweile eine Dialogbasis vorhanden, die er für aktuelle Fälle nutzt, denn: "Nur gemeinsam können wir uns gegen korrupte Politiker und ein korrumpiertes Finanzsystem wehren."

So findet soziales Engagement in Spanien mittlerweile an Wahlurnen Widerhall. Nach der aus der 15M-Protestbewegung erwachsenen Liste "Podemos" wagt sich nun die PAH-Gründerin Ada Colau aufs Politparkett. Mit "Guanyem Barcelona" will sie bei den Bürgermeisterwahlen antreten. (Jan Marot, DER STANDARD, 5.7.2014)