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Bei einer Razzia Mitte Mai im Nordosten Frankreichs - hier eine Szene in Straßburg - wurden sechs aus Syrien zurückgekehrte mutmaßliche Jihadisten festgenommen.

Foto: AP/Badias

Der Fall Mahdi Nemmouche hat Frankreich aufgerüttelt. Der 29-jährige Franzose algerischer Herkunft erschoss Ende Mai bei einem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel mutmaßlich vier Menschen, nachdem er aus dem Bürgerkrieg in Syrien zurückgekehrt war. Angst machte Nemmouche auch, weil er keineswegs ein Einzelfall ist: Wie er sind schon 300 junge Männer und Frauen aus Frankreich in den Bürgerkrieg im Nahen Osten verreist.

30 von ihnen sind ums Leben gekommen, wie der französische Innenminister Bernard Cazeneuve am Mittwoch ausführte; 100 befänden sich hingegen auf dem Rückweg und könnten für Frankreich und den ganzen Schengenraum zu einer Gefahr werden. 500 junge Franzosen hält der Geheimdienst zudem für abreisewillig, ein Fünftel von ihnen habe, so Cazeneuve, bereits konkrete Vorkehrungen für eine Reise über die Türkei nach Syrien getroffen.

Gegen dieses neuartige Phänomen hat der Innenminister nun einen weitreichenden Plan vorgestellt, der einer neuen Attentatswelle vorbeugen soll. In erster Linie soll die Abreise von Möchtegern-Jihadisten verhindert werden. Für Minderjährige wird ein Ausreiseverbot aus Frankreich eingeführt, sofern die Eltern darum ersuchen. Für sie hatte die Regierung im April schon eine Notrufnummer eingerichtet. Damit übertragen die Behörden den Eltern eine erhöhte Verantwortung bei der Früherkennung. Cazeneuve hält dies für wirkungsvoller als - weitgehend gescheiterte - Versuche, Passkontrollen an Flughäfen generell zu verschärfen. Auch Volljährige können an der Ausreise Richtung Türkei oder Syrien gehindert werden, aber nur mit richterlicher Verfügung.

"Reisebüros" im Untergrund

Weiters erhält die Polizei mehr Mittel, die im islamistischen Untergrund wirkenden Reiseorganisationen zu zerschlagen. Dabei handelt es sich um kleine, aber gut organisierte Netzwerke, die über harmlos wirkende islamische Internetseiten erste Kontakte zu Reisewilligen herstellen. Die Polizei soll dazu eng mit Internetprovidern kooperieren und erhält auch die Möglichkeit, Bankkonten dieser Reisevermittler zu sperren.

All diese Maßnahmen will Cazeneuve auf europäischer Ebene besser koordinieren - um gerade Fälle wie Nemmouche zu verhindern: Der Frankoalgerier war in Paris als Kleinkrimineller registriert, bewegte sich aber in Belgien und den Niederlanden frei.

Antiterror-Experten begrüßten die Ankündigung als ersten Schritt. Der Untersuchungsrichter Marc Trévidic hatte schon im Voraus erklärt, es müsse erste Priorität der Regierung sein, Syrienreisen von beeinflussbaren Jugendlichen zu verhindern. Bei Rückkehrern gelte es dann aber vorsichtig zu sein. Oft sei es besser, sie "einige Zeit und unter genauer Kontrolle wie Eisberge im Atlantik treiben zu lassen und erst dann unschädlich zu machen, wenn sie Anstalten zum Handeln machen".

Europäische Kooperation

Die Angst vor Anschlägen sei jedoch so groß, dass die Polizei die Tendenz habe, Syrien-Jihadisten gleich bei ihrer Rückkehr zu "pflücken", meint Trévidic. Mit ihrer Inhaftierung treibe man deshalb auch enttäuschte Rückkehrer in die Radikalisierung. Nemmouche hatte überhaupt erst im Gefängnis und unter dem Einfluss von Islamextremisten den Koran und darauf den Jihad entdeckt. Der Leiter der muslimischen Gefängnisseelsorge in Frankreich, El Aloui Talibi, hatte die Regierung nach dem Brüsseler Anschlag aufgefordert, das Problem an der Wurzel zu packen und in den Haftanstalten mehr Seelsorger einzustellen, die den Jihad-Predigern den Wind aus den Segeln nehmen könnten. Das Justizministerium lehnte das ab.

Am Dienstag hatte sich Cazeneuve beim Treffen der EU-Innenminister in Mailand mit seinen Kollegen aus Deutschland, Belgien, Großbritannien, Italien, Schweden, Spanien, Dänemark und den Niederlanden auf einen Aktionsplan gegen die Bedrohung durch zurückkehrende Jihadisten geeinigt. Neben engerem Informationsaustausch wird erwogen, auch EU-Bürger bei der Wiedereinreise in den Schengenraum systematisch zu kontrollieren. Österreich ist nach Angaben des Büros von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner an einer Kooperation auf EU-Ebene interessiert. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 10.7.2014)