Sie war die erste deutsche Frau, die in Geschichtswissenschaft promovierte: 1891 im liberalen Zürich, wo sie auch gleich eine Anstellung an der Stadtbibliothek fand. Da war Ricarda Huch 27 Jahre alt und jenem neurotischen Milieu ihrer Braunschweiger Kaufmannsfamilie entflohen, dessen Glanz und Verfall sie, lange vor Thomas Manns Buddenbrooks, in ihrem Romanerstling Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren schilderte.

Später führte sie als freie Schriftstellerin ein sprunghaftes Künstlerleben und fand mit einer Reihe ebenso fundierter wie sprachmächtig erzählter Geschichtsstudien ein großes Lesepublikum: Die Romantik, der Dreißigjährige Krieg, Wallenstein, schließlich das Mittelalter und die Reformationszeit waren ihre wichtigsten Themen. Die zupackende Kraft der Erzählerin mischte sich da vorteilhaft mit dem Wissen der Historikerin und beförderte geistsprühende Darstellungen.

Gestutzte Flügel

Um die Jahrhundertwende erschloss ihre von Kenntnisfülle wie von tiefenpsychologischer Einsicht zeugende Abhandlung über die Romantik wissenschaftliches Neuland und wurde im Wort- sinn epochemachend. Ihr 1912-14 erschienenes dreibändiges Geschichtswerk über den Dreißigjährigen Kriegs hieß Der große Krieg in Deutschland und wurde damals von vielen als Warnschrift aufgefasst.

Im Ersten Weltkrieg, über dessen Entfesselung barbarischer Urtriebe sie sich keine Illusionen machte, suchte sie erneut Zuflucht in der Schweiz. Viel beachtet wurde ihre 1915 publizierte Charakterstudie über Wallenstein, die den Feldherrn als exemplarisch für sein Zeitalter porträtierte.

Die Autorin sah in Wallenstein einen Falken mit gestutzten Flügeln, dessen ungestüme, unberechenbare Natur seiner Umgebung gleichwohl ein besonders vorsichtiges Verhalten abverlangte. "Er wurde behandelt wie eine sehr künstliche Maschine, die, wenn man sie nicht ganz richtig anfasste, explodieren könnte", schrieb sie. In seiner eigenen Wallenstein-Biografie zitierte Golo Mann später voll Respekt die Einschätzung seiner Vorgängerin Ricarda Huch über den zaudernden Feldherrn: "Er hatte schaudernd in den Abgrund seiner Seele hinein geblickt und bewegte sich behutsam, um ihn den anderen zu verhüllen."

"Undeutsch und unheilvoll"

Zu ihrem sechzigsten Geburtstag am 18. Juli 1924 ehrte sie Thomas Mann als "erste Frau Europas" und sorgte dafür, dass sie bald darauf als einziges weibliches Mitglied in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen wurde. Nach dem Machtantritt von Adolf Hitler im Jahr 1933 widersetzte sich Ricarda Huch, um vieles mannhafter als viele der dort versammelten Männer, dem von Gottfried Benn verfassten Loyalitätsaufruf und erklärte in einer denkwürdigen Stellungnahme ihren Austritt: "Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll. Bei einer so sehr von der staatlich vorgeschriebenen Meinung abweichenden Auffassung halte ich es für unmöglich, in einer staatlichen Akademie zu bleiben."

Freiheit der Untertanen

In ihrer 1934 erschienenen Darstellung Römisches Reich Deutscher Nation widmete sie ostentativ zwei Kapitel der Lage der Juden im Mittelalter und hielt fest, es sei "kein Blatt in der Geschichte der Menschheit so tragisch und geheimnisvoll wie die Geschichte der Juden". Und mit Blick auf die gegenwärtigen Nazi-Machthaber schrieb Huch: "Die Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts wühlten auf, was an bestialischen Trieben in den Untiefen des deutschen Volkes sich verbarg, und offenbarten den Heroismus, dessen die Juden fähig waren."

Das offizielle Deutschland empfahl daraufhin der Autorin, das Land zu verlassen. Doch Ricarda Huch ließ sich nicht wegweisen. Der Schweizer Verleger Martin Hürlimann bot ihr in seinem Atlantis-Verlag publizistische Zuflucht, vor allem für ihre 1937 erschienene, sehr lutherkritische Darstellung über Das Zeitalter der Glaubensspaltung, die dann auch prompt für den deutschen Markt verboten wurde.

Darin hieß es über die vom nationalsozialistischen Regime vergötterten Germanen: "Das Verhältnis zur Obrigkeit hatte bei den Germanen gar nicht den Charakter sklavischer Untertänigkeit; es war üblich, dass dem Herrn nicht gehuldigt wurde, bevor er gelobt hatte, die Freiheiten der Untertanen zu halten, zuweilen hatten die Untertanen sogar das Recht, sich einen anderen Herrn zu wählen, wenn ihre Privilegien verletzt waren."

Mit Ehren überhäuft

Wegen ihrer freimütigen Äußerungen gegen die Judenverfolgung wurde gegen Huch und ihren Schwiegersohn Franz Böhm 1938 in Jena nach dem nationalsozialistischen "Heimtückegesetz" ermittelt; beide waren von dem NS-Hochschullehrer Richard Kolb, einem Kollegen von Böhm, denunziert worden. Franz Böhm verlor in der Folge seine Professur an der dortigen Universität.

In Jena, am Oberen Philosophenweg, der mittlerweile Ricarda-Huch-Weg heißt, versuchte die greise Dichterin während der Kriegszeit, die Familie mit Schreiben über Wasser zu halten. Zum Widerstand hielt sie über Carl Goerdeler, den ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, Kontakt. Nach Kriegsende vom neuen Regime in der sowjetischen Besatzungszone mit Ehren überhäuft, setzte sie alle schwindende Energie daran, dem deutschen Widerstand - von der Weißen Rose bis zur Roten Kapelle - ein Denkmal in Buchform zu errichten, und zuletzt auf abenteuerliche Weise wieder in den Westen überzuwechseln, wo Franz Böhm 1945 erster Kulturminister in Hessen geworden war.

Die Flucht in den Westen überlebte sie nicht. Entkräftet starb sie 1947 in der Nähe von Frankfurt. Sie hinterließ das Bild einer beeindruckend mutigen Frau, die sich durch Tapferkeit nicht vor einem vorgeblichen äußeren, sondern vor dem inneren Feind Deutschlands auszeichnete.

In ihren historischen Werken ist noch immer lebensfrisch nachlesbar, mit welch leidenschaftlicher Anteilnahme sich Ricarda Huch der deutschen Geschichte und Gegenwart stellte, ohne sich jemals in den nationalen Mythos zu fliehen. (Oliver vom Hove, Album, DER STANDARD, 12./13.7.2014)