Machteld Venken untersucht Kinder als Ziel von Nationalisierung.

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Wien - Wohin der Nationalismus zuweilen führt, daran wird dieser Tage europaweit in Gedenk- und Nachdenkveranstaltungen erinnert: Was vor 100 Jahren als Aufwallung von Nationalstolz in Europas Metropolen begonnen hatte, wurde auf den Schlachtfeldern am Isonzo und in Flandern zu Ende gebracht. Vor dem Nationalstolz kommt das Nationalbewusstsein, der gemeinsame Glauben daran, dass eine Nation tatsächlich existiere. Denn Nationen kann man nicht anschauen und nicht angreifen - es gibt sie nur in den Köpfen. Doch können Staaten Nationalbewusstsein in den Köpfen der Menschen verankern?

Mit dieser Frage setzt sich die Historikerin und Slawistin Machteld Venken in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt in Wien auseinander. Venken, gebürtige Belgierin, erforscht im Rahmen ihres Elise-Richter-Stipendiums die Frage, wie Kinder nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in annektierten Grenzregionen Europas aufwuchsen und "nationalisiert" wurden - wie der Staat also versuchte, bei ihnen ein positives Gefühl für ihre neue Nation hervorzurufen und zu verankern. Venken untersucht, durch welche staatlichen Kampagnen Kinder und Jugendliche zu vollen Mitgliedern einer Nation erzogen werden sollten; dazu analysiert sie etwa Bildungsangebote, Jugendorganisationen und den Familienalltag in diesen Regionen.

Das Fremde kontrollieren - und das Eigene

Die Peripherie sei immer schon ein beliebtes Terrain für staatliche Nationalisierungsbestrebungen, erklärt Venken im Gespräch mit dem Standard. Deshalb untersucht die Historikerin zwei Grenzregionen zu Deutschland: Eupen-St. Vith-Malmedy in Belgien und Ostoberschlesien in Polen. Diese Regionen fielen nach dem Ersten Weltkrieg an Belgien beziehungsweise Polen, wurden während des Zweiten Weltkriegs von Deutschland annektiert und entstanden danach wieder als Teile Belgiens und Polens. Weil die Kriege die Grenzen neu gezogen haben, findet Venken für ihre Frage nach der Entstehung von Nationalgefühl hier eine nationalstaatliche Tabula rasa.

"Nach dem Krieg haben der belgische und der polnische Staat gesagt: Diese Region gehört jetzt zu uns, wir müssen die Einwohner nationalisieren", erzählt Venken, die selbst aus der belgisch-niederländischen Grenzregion stammt. Für den Staat seien Grenzregionen wichtig, weil es hier um Kontrolle geht - über das Fremde und über das Eigene. "Grenzbewohner werden nicht automatisch zur Nation gezählt. Die Politik wollte diese Bewohner immer schon mehr nationalisieren. Die Leute an der neuen Grenze mussten sich aus Sicht des Staates ja besonders loyal verhalten."

Kinder: Rückgrat der Nation

Doch lässt sich Loyalität zum Staat von oben verordnen? In den von Venken untersuchten Regionen galten die Nationalisierungsversuche der Regierung vor allem den Kindern - sie sollten aus den Verwerfungen des Krieges als Generation loyaler Staatsbürger hervorgehen. Venken: "Speziell Kinder wurden nach den Weltkriegen als Hoffnungsträger und als begehrte Ressource gesehen, als Rückgrat der Nation und bestens dafür geeignet, die Region mit ihren neuen Grenzen zu stabilisieren und zu homogenisieren." Der Krieg hatte gezeigt, dass vor allem in Grenzregionen viele Menschen in Kriegszeiten zum "Feind" überlaufen - das galt es künftig zu verhindern. "Die Menschen in den Grenzregionen standen im Verdacht, im Krieg mit dem Feind zu kollaborieren", sagt Venken.

In den belgischen und polnischen Regionen, die Venken untersucht, entwickelten die Regierungen in den ersten Jahren nach den Weltkriegen deshalb politische Programme, um Kinder zu treuen Staatsbürgern heranzuziehen. "Staatliche Autoritäten eröffneten zum Beispiel neue Schulen, um eine lokale Elite aufzubauen. Die Kinder in der belgischen Grenzregion mussten in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Alter von 16 Jahren anstatt bis 14 zur Schule gehen." Das war natürlich ein Privileg: Auf diese Weise eröffnete man Kindern, die vorwiegend aus bäuerlichem Milieu stammten und deren Schulbildung durch den Krieg jäh unterbrochen worden war, Chancen auf sozialen Aufstieg. "Die Kinder sollten durch Privilegien aber auch positiv auf die Nation eingestimmt werden", sagt Venken. "Der belgische Staat konnte so die Kontrolle der Jugend ausbauen."

Misslungene Nationalisierung

Obwohl die Kinder also von staatlichen Nationalisierungsbestrebungen profitierten, zeigen autobiografische Schriften und die Interviews, die Venken mit den Überlebenden geführt hat: Die damaligen Kinder nahmen die Nationalisierungsbestrebungen meist negativ auf und entwickelten keine positive Haltung zum Staat. "Das ist paradox", sagt Venken. "Die Nationalisierung ist in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst überhaupt nicht gelungen."

Denn gerade in den landwirtschaftlich geprägten belgischen und polnischen Grenzregionen, die weit vom Zentrum entfernt sind, war der Staat ansonsten kaum präsent. "Das sind fast isolierte Regionen, wo man dem Staat und seinen Institutionen nicht oft begegnet", sagt die Forscherin. "Die Regionen waren bis weit ins 20. Jahrhundert sehr autark organisiert, und vieles, was vom Staat kam, hat man als schlecht angesehen."

Zudem wurde das Misstrauen, das der Staat vielen Menschen in den Grenzregionen entgegenbrachte, auch von den Kindern wahrgenommen. Das führte bei vielen zu früher Skepsis gegen die Idee der Nation. "Kinder haben genau mitbekommen, dass der Staat ihre Eltern derart infrage stellt. Wenn der eigene Vater nach dem Krieg aus politischen Gründen im Gefängnis war, dann prägt das die negative Sicht des Kindes auf den Staat ein Leben lang." (Lisa Mayr, DER STANDARD, 30.7.2014)