Das Werkl muss laufen: Wer mit Krankheit konfrontiert ist, braucht Ärzte, Medikamente, Beratung - am besten gut aufeinander abgestimmt und koordiniert. Das Ziel: gut zu leben, trotz Krankheit.

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Verhältnismäßigkeiten spiegeln Realitäten wider: Rund 80 Prozent der Gesundheitsausgaben entfallen auf 20 Prozent aller Versicherten, wie die Statistik der Krankenversicherung zeigt. Hinter dieser Zahl verbergen sich hunderttausende Schicksale, und zwar von Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Ganz abgesehen von ihren Leiden, sind sie gezwungen, sich mit dem Gesundheitswesen sehr intensiv zu befassen. Das bedeutet: Termine von einem Arzt zum nächsten, nicht selten unterschiedliche Empfehlungen.

Sehr deutlich wird die Herausforderung bei Diabetes, einer Erkrankung, bei der Patienten Internisten, Diätologinnen, Augenärzte, Nierenspezialisten und Neurologen brauchen. Zucker einstellen, Ernährung umstellen, Gefühlsverlust und das Kribbeln in den Beinen und Armen frühzeitig erkennen und in den Griff bekommen, vielleicht brauchen Diabetiker sogar eine Pflegekraft, die offene Stellen an den Füßen versorgt, damit der Worst Case, die Amputation als Folge von Diabetes, verhindert wird.

Das Beispiel zeigt: Die Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen ist nicht nur komplex und teuer, sondern für die Beteiligten nicht selten frustrierend. Es ist vor allem eines: nicht gesundheitsfördernd. Mit Leitlinien für die Behandlung und vernetzten Strategien - Experten bezeichnen das als Disease-Management-Programme (DMP) - versuchen die Krankenversicherungen gegenzusteuern. Das Ziel: Patienten sollen ihre Krankheit verstehen, sich selbst helfen und versorgen können.

Versorgung organisieren

"Disease-Management-Programme bieten die Chance, die Versorgung systematisch, integriert, multiprofessionell und patientenorientiert zu organisieren", analysiert Helmut Nagy, Mitarbeiter beim Diabetes-DMP-Programm "Therapie aktiv" der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse. "Das Ziel für Patienten ist, die Lebensqualität zu verbessern und eine Lebensverlängerung zu erreichen", erklärt Nagy.

Gelingen soll das durch Vermeidung und Hinauszögern von Folgeerkrankungen und Komplikationen. Anders formuliert: DMP soll Patienten befähigen und motivieren, an der Verbesserung mitzuwirken.

Dazu wird bei Diabetes die Arbeit von Internist, Diätologe, Augenarzt, Nierenspezialist, Neurologe und Gesundheits- und Krankenpflege klar strukturiert und vernetzt. So definierte Behandlungswege geben dann Patienten und Angehörigen einen Überblick über die notwendigen Schritte.

"Durch eine strukturierte und kontinuierliche medizinische Betreuung sollen Folgeschäden vermieden werden, die Lebensqualität der Patienten soll derart erhalten oder verbessert werden", erklärt der Bundesverband der deutschen Krankenkassen, die schon länger auf DMP setzen. Wichtig dabei: Diagnostik und Therapie folgen den Kriterien der evidenzbasierten Medizin. Wesentlich seien zudem Schulungen, die den eigenverantwortlichen Umgang der Patienten mit ihrer Erkrankung unterstützen.

"Die besten Chancen auf ein weitgehend normales Leben haben jene Patienten, die sich selbst und ihren Arzt sowie weitere Gesundheitskräfte als Team begreifen, das gemeinsam die chronische Erkrankung managt", sagt Andrea Riedel von der Österreichischen Ärztekammer und geht noch weiter: "Dazu gehört aber auch die Bereitschaft zur Lebensstiländerung oder das Einhalten von Kontrollterminen."

Bisher suboptimal

Allerdings hat das Konzept in den Augen von Fachleuten auch Schwachstellen: "Die Grundidee von DMP klingt zunächst nicht schlecht: Man versucht, möglichst viele Patienten, die unter den großen Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus, chronisch-obstruktiver Lungenkrankheit oder koronarer Herzkrankheit leiden, in standardisierte Diagnose- oder Therapieprogramme einzuschleusen, um sie nach den neuesten wissenschaftlichen Leitlinien behandeln zu können", so der Arzt für Innere Medizin und Psychotherapeut Klaus-Dieter Platsch.

Ein strukturierter Ablauf der Behandlung sehe in der Theorie gut aus. Aber viele Ärzte würden "mit den Programmen nicht froh, weil sie kaum noch Möglichkeiten haben, ihre Patienten individuell zu behandeln. Gewöhnlich verlangt eine gute ärztliche Behandlung die Berücksichtigung der individuellen Situation des Patienten", meint der Autor des neu erschienenen Buches Die Medizin heilen. An der Schwelle einer neuen Gesundheitskultur. Weiterer Kritikpunkt: Die Krankenkassen würden auf lange Sicht mit Einsparungen rechnen, nur dieser Spareffekt ist bisher noch nicht erwiesen.

Ähnlich sieht es Thomas Meisermann, niedergelassener Internist und Geriater in Wien: Die Programme seien von Gesundheitsmanagern erdacht, "und deren Analyse besagt, dass durch Arztwechsel, verschiedene Anlaufstellen für Patienten in mehreren Krankenhäusern und schlechte Organisation viel Information verlorengeht und Geld verbraten wird."

Der einzelne Arzt, der eine Beziehung zum Patienten aufbaut und ihn begleitet, verliert an Bedeutung - zugunsten einer zentral gesteuerten Verwaltung, die Termine für Kontrollen, Diagnose und Schulungen vorschreibt. "Durch die Automatik dieses Systems werden Patienten in der Spur gehalten. Die Folgen sind weniger Schlamperei, aber auch weniger Freiheit", sagt Meisermann. Eine Zweitmeinung einzuholen habe da keinen Platz, erklärt der Internist. Eine Alternative sieht er in einer guten Arzt-Patienten-Beziehung und in einem gegenseitigen Kooperieren.

Betroffene stärken

Hier hakt auch die Präsidentin des Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes, Ursula Frohner ein. Aufgrund der Nähe zu Patienten sei gerade ihre Berufsgruppe gefordert, Betroffene zu stärken. "Wir fragen die Leute, wie es geht, ob sie die Therapie umsetzen, wie ihr Allgemeinzustand ist, wie sie das Einnehmen von Tabletten in den Tagesablauf einbauen."

Wichtig erscheint ihr, dass sich alle Gesundheitsberufe, die ärztlichen und die nichtärztlichen, abstimmen. Entlang klarer Behandlungspfade kann dann gezielt das nötige Personal eingesetzt werden. Ziel ist Selbstbestimmung durch Motivation.

"Wir schauen uns die individuelle Situation an, fragen, ob unterstützende Begleitung notwendig ist. Es ist entscheidend, sich Zeit zu nehmen für ein Gespräch, zu fragen, ob jemand in einer Wohnung in der Stadt oder in einem Seitental auf dem Land lebt. Das hat Einfluss auf die Betreuung oder ist dann beim Wundmanagement mit zu berücksichtigen." Auch die Angehörigen seien für die Pflege wichtig.

Jan Pazourek, Generaldirektor der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse, hat lange Erfahrung mit DMP und ortet Verbesserungsbedarf. "Wir müssen klarlegen, dass die bisherigen Versuche im internationalen Vergleich suboptimal waren. Unser DMP kann helfen, chronisch kranke Patienten zu begleiten, sofern die niedergelassenen Ärzte das nicht als Attacke auf ihr Können erleben und dann fragen, warum sie das brauchen, sie seien eh gut genug."

Hier brauche es Zurückhaltung der Standesvertretung und vonseiten der Kassen Seriosität, damit die Ärzte das nicht als Kritik ihrer Arbeit verstehen. (Ina Schriebl, DER STANDARD, CURE 19.8.2014)