"Das Gehirn ist vielleicht keine komplett schwarze Box, aber ziemlich dunkel ist sie schon", sagt Neurowissenschafter Richard Frackowiak.

Foto: CEMCAV CHUV Lausanne

Als Co-Direktor des Human Brain Project erklärt Richard Frackowiak, warum sein Fachgebiet mit den Computerwissenschaften kooperiert.

STANDARD: Herr Frackowiak, Sie erforschen seit mehr als 30 Jahren das Gehirn. Hat das Ihr Denken eigentlich verändert?

Frackowiak: Manche Forscher sagen, bestimmte Menschen denken schneller als andere. Aber ob mein Hirn fixer ist, kann ich nicht sagen.

STANDARD: Wie funktioniert Denken?

Frackowiak: Wenn ich das wüsste! Unser Hirn ist ein hochkompliziertes Geflecht aus Nervenzellen. Beim Denken tauschen die Nervenzellen untereinander elektrische Signale aus, so viel wissen wir inzwischen, aber was genau passiert, nicht. Verursacht schon das Feuern jeder einzelnen Zelle einen Gedanken? Oder müssen dafür erst Signale durch mehrere Nervenzellen geschickt werden? Wann tritt der Gedanke auf? Zum Zeitpunkt, wenn die Nervenzelle feuert? Oder erst, wenn mehrere Zellen gefeuert haben?

STANDARD: Was macht das Gehirn so schwer zu erforschen?

Frackowiak: Wir können aus dem Gehirn für Experimente nicht so problemlos Proben entnehmen wie aus anderen Organen. Über Krankheiten am Herzen, an den Nieren, in den Lungen oder im Darm wissen wir deshalb so viel, weil Forscher Gewebe und die Zellen von Gesunden und Kranken untersucht und verglichen haben. Wir wissen zum Beispiel genau, warum das Herz eigenmächtig schlägt: Es wird wie ein Automotor durch spezielle Zellen gezündet, und andere Zellen leiten den Zündfunken auf den Herzmuskel über, der sich schließlich zusammenzieht und pumpt. Beim Gehirn sind wir davon noch meilenweit entfernt - es ist eine Black Box.

STANDARD: Aber man hat doch schon vor mehr als 100 Jahren herausgefunden, dass bestimmte Hirnregionen für bestimmte Aufgaben zuständig sind - etwa dass wir mit den Nervenzellen hinter den Schläfen hören oder dass Nervenzellen in Scheitelnähe Bewegungen befehlen.

Frackowiak: Das Gehirn ist vielleicht keine komplett schwarze Box, aber ziemlich dunkel ist sie schon. Die Einteilung von Zuständigkeiten im Gehirn ist sehr grob. Was genau in den Nervenzellen und zwischen ihnen passiert, wissen wir ebenso wenig wie bei den Denkprozessen. Welche Botenstoffe oder Signale schütten die Nervenzellen aus? Wie werden diese auf die anderen Zellen übertragen? Was unterscheidet eine Nervenzelle aus dem "Hörbereich" von einer aus dem "Bewegungsbereich"? Und vor allem: Was passiert bei Hirnkrankheiten? Wie verändern sich Stoffwechsel oder Signale? Um das herauszufinden und Therapien zu entwickeln, gibt es das "Human Brain Project".

STANDARD: Was genau ist das Human Brain Project?

Frackowiak: Im Human Brain Project wollen wir das gesamte Wissen über das menschliche Gehirn auf einem Computer nachbilden, also simulieren. Das Projekt wird von der Europäischen Kommission mit einer Milliarden Euro gefördert, es sind 112 Forschungseinrichtungen aus Europa und der ganzen Welt beteiligt. In einem simulierten Gehirn am Computer könnten wir Experimente immer wieder durchführen und die Ergebnisse detailgenau aufzeichnen - ohne die teuren, aufwändigen und oft nur indirekten Beobachtungsmethoden der heutigen Hirnforschung wie Magnetresonanztomografie oder die elektrische Messung von Hirnströmen.

STANDARD: Dieses Computermodell unseres Gehirns ist sehr kostspielig. Wie rechtfertigen Sie es?

Frackowiak: Die Menschen werden immer älter und erkranken als Folge immer öfter an alterstypischen Hirnkrankheiten wie Alzheimer oder einer anderen Demenz. Es wurden bisher Milliarden von Euro in die Erforschung neuer Therapien für diese Krankheiten gesteckt - ohne einschneidenden Erfolg. Manchmal kommt es mir so vor, als tappten wir im Dunkeln: Wir wissen einfach nicht, wonach wir suchen. Wenn wir das Gehirn am Computer simuliert haben und sehen, wie und wann Nervenzellen Signale und Stoffe hin und her schicken und wie das bei Krankheiten gestört ist, können wir gezieltere Therapien entwickeln. Wir könnten dann auch Hirnkrankheiten mit biochemischen Analysen neu klassifizieren. Das könnte bedeuten, dass wir eine Krankheit mit unterschiedlichen Therapien behandeln. Bei Brustkrebs etwa gibt es die individualisierte Therapie heute schon. Doch der medizinische Aspekt ist im Human Brain Project nicht alles.

STANDARD: Welche weiteren Ziele verfolgt das Projekt?

Frackowiak: Wir hoffen auch auf Neuerungen im Bereich der Computertechnologie. Unser Hirn bewältigt nicht nur viele Probleme besser als Computer, es verbraucht dafür auch wesentlich weniger Energie. Das liegt vermutlich an seiner Arbeitsweise. Im Gegensatz zu Computern, die präzise und mit Hochgeschwindigkeit funktionieren, arbeitet unser Gehirn vermutlich mit einem Sammelsurium von langsamen Bauteilen. Nur mit einem raffinierten Verfahren gelingt es, Informationen blitzschnell und zuverlässig zu verarbeiten. Gelänge es uns, diesen Kniff der Natur nachzuahmen, könnten wir Roboter bauen, die ihre heutigen Kollegen mit ihrer langsamen Software und ihrem Energieverbrauch hinter sich lassen. Wir könnten Computerchips herstellen, die ähnlich schell und energiesparend wie das Hirn funktionieren.

STANDARD: Kürzlich ist das Human Brain Project stark kritisiert worden. 156 Wissenschafter bemängelten fehlende Transparenz, schlechtes Management und die geringen Erfolgsausichten. Wie kam das?

Frackowiak: Ich glaube, das Ganze beruht auf einem Missverständnis wegen schlechter Kommunikation. Die Kritik kommt von Neurowissenschaftern. Sie haben das Gefühl, nicht genug Forschungsgelder zu bekommen. Das Budget für unser Projekt kommt nicht von den Neurowissenschaften, sondern von den Computerwissenschaften. Dabei bekommen die Neurowissenschafter einiges: nicht nur Wissen, sondern auch Computertechniken, mit denen sie schneller und effektiver forschen können. (Felicitas Witte, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)