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Ein Autobahnknoten in Schanghai: Komplexitätsforscher analysieren unter anderem, wie es zu Staus kommt - und wie man sie vermeiden könnte.

Foto: Corbis/Keren Su

Wien - Für Laien mag es absurd klingen, Wissenschafter sind sich jedoch einig: Straßenverkehr und das menschliche Immunsystem haben einiges gemeinsam. Beide sind komplexe Systeme; Netzwerke, deren Einzelteile untereinander wechselwirken. Der Wiener Physiker und Komplexitätsforscher Stefan Thurner ergänzt: "Diese Einzelteile haben auch Eigenschaften, die das Netzwerk beeinflussen und verändern, das Netzwerk beeinflusst dann wieder die Einzelteile."

Im Straßenverkehr wären das zum Beispiel die Autofahrer: Ihr Fahrverhalten hat Auswirkungen darauf, ob der Verkehr fließt. Ihnen ähnliche Bestandteile des Immunsystems sind Leukozyten: Nur wenn genügend davon vorhanden sind, können Eindringlinge wie Bakterien abgewehrt werden. Komplexitätsforscher bilden derlei Systeme in ihren Einzelheiten mit Computersimulationen ab und analysieren das Risiko eines Zusammenbruchs, wenn es zu Ausfällen im Netzwerk kommt, ein Ansatz, der seit den 1970er- und 1980er-Jahren boomt und vor allem durch die 1984 gegründete Denkwerkstatt Santa Fe Institute in New Mexico immer wieder neue Impulse erhält. Mittlerweile ist an der Nanyang Technology University (NTU) in Singapur ein entsprechendes Zentrum in Asien entstanden.

Supermächte der Zukunft

Schon der in den 1980er-Jahren beim Bergsteigen tödlich verunglückte US-amerikanische Quantenphysiker Heinz Pagels schwärmte: "Jene Länder, die Complexity-Science beherrschen, werden die wirtschaftlichen und kulturellen Supermächte des 21. Jahrhunderts sein." Nun soll auch in Wien ein Zentrum entstehen, in dem sich mindestens zwanzig Wissenschafter mit derartigen komplexen Systemen beschäftigen. Ein entsprechendes Diskussionspapier wurde von Thurner, Michael Stampfer, Geschäftsführer des Wiener Wissenschaftsfonds (WWTF), Wolfgang Knoll, dem wissenschaftlichen Leiter des Austrian Institute of Technology (AIT) und von der ehemaligen Präsidentin des Europäischen Forschungsrats ERC, Helga Nowotny, verfasst. "Ich hoffe sehr, dass sich das umsetzen lässt. Ein derartiges Center wäre ein Beitrag, die Stadt wirklich innovativer zu machen", sagt Thurner im Gespräch mit dem Standard.

Die Autoren des Papiers schlagen vorsorglich eine Aufteilung der Finanzierung in der fünfjährigen Startphase vor: Die Stadt Wien sollte passende Räumlichkeiten zur Verfügung stellen und Miete sowie Betriebskosten begleichen. Die wissenschaftlichen Partner, zu denen das AIT und die Med-Uni Wien, Thurners Stammuni, zählen könnten, würden für die Personalkosten aufkommen.

Der Plan hat mehrere prominente Fürsprecher: Bertil Andersson, Präsident der Nanyang Technology University und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des AIT, spricht von einem wichtigen Schritt, einen Blick auf das große Ganze zu werfen, und ist überzeugt, dass die politische Führung der Stadt dafür Interesse zeigt.

Aber auch Jan Vasbinder, Direktor des Complexity Science Centers in Singapur, sowie Brian Arthur, Ökonom, Spieltheoretiker und Professor am Santa Fe Institute, wollen die Gründung in Wien unterstützen. Beide erzählen im Standard-Interview von ihren Zugängen zur Forschung und von den dabei erzielten Fortschritten. "Wir verstehen komplexe Systeme mittlerweile sehr gut. Schnelle Lösungen zu finden, um das Risiko eines Systemzusammenbruchs zu beheben - das wird aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen." Arthur weist dabei noch einmal darauf hin, was man dank Complexity-Science abbilden kann: zum Beispiel das Finanzsystem. Und Thurner erklärt: "Wir müssen verstehen, in welcher Phase ein Netzwerk gerade ist und überlegen, wie wir es von einer vielleicht instabilen in eine stabilere Phase bringen."

Zwei Monate pro Jahr holt sich Thurner entsprechende Anregungen am Santa Fe Institute. Das wurde übrigens nicht ohne Grund fernab jeder großen Universität errichtet. "Im Uni-Betrieb ist man meist gezwungen, in Strukturen zu denken und braucht fachspezifische Publikationen, um seinen Wert als Wissenschafter zu steigern", sagt Brian Arthur. "In der Komplexitätsforschung brauchen wir aber Grenzüberschreitungen. Deswegen war dieser Ort als Denkwerkstatt ideal."

Ob das Wien auch sein kann, wird sich zeigen. (Peter Illetschko, DER STANDARD, 20.8.2014)