Bild nicht mehr verfügbar.

Pascal Lamy ist davon überzeugt, dass die von Russland gegen die EU und die USA verhängten Handelssanktionen bald auf dem Tisch der Welthandelsorganisation WTO landen.

Foto: Reuters / Denis Balibouse

STANDARD: Inwiefern unterscheiden sich die TTIP-Verhandlungen zwischen der EU und den USA von anderen Handelsverträgen?

Pascal Lamy: Das ist eine völlig neue Form von Handelsvertrag. Die meisten Verhandlungen beziehen sich auf den Abbau von Barrieren, die es im transatlantischen Handel kaum noch gibt. Es geht nicht um Zölle, sondern um Standards, um Normen, um Schutzmaßnahmen. Und da gibt es eine Grauzone. Auf beiden Seiten wird sehr schlecht verhandelt, es wird nicht erklärt, worum es geht. Wenn man den Leuten den Eindruck gibt, es geht um eine Verringerung der Schutzmaßnahmen, dann wird das nicht funktionieren.

STANDARD: Ist der Grund dafür nicht die Intransparenz bei den Verhandlungen?

Lamy: Ich stimme zu. Da es sich um sensible Themen handelt, sollte es mehr Transparenz geben. Aber das trifft auf beide Seiten zu.

STANDARD: Auch auf die europäische? Denn die Verhandler behaupten, sie dürften aufgrund von US-Restriktionen nicht mehr Informationen geben.

Lamy: Man liest das Gleiche auf beiden Seiten. Amerikanische Konsumenten behaupten auch, die Europäer würden weniger Schutzmaßnahmen ergreifen. In der Realität ist das natürlich vom jeweiligen Thema abhängig. In manchen Bereichen wie zum Beispiel bei chemischen Produkten sieht die EU-Regelung schärfere Vorsichtsmaßnahmen vor. Umgekehrt: Die US-Autos sind nicht schlechter als europäische. Die Wahrnehmung hier, die EU sei supervorsichtig und die Amerikaner das Gegenteil davon, stimmt so generell nicht. Es ist nicht gut erklärt worden.

STANDARD: Auf der EU-Seite: Wäre das nicht Aufgabe der Kommission?

Lamy: Natürlich.

STANDARD: Das Chlorhuhn, das Hormonrind, die gentechnisch behandelten Produkte: Werden die Bedenken der Europäer nicht ernst genommen?

Lamy: Als ob die Europäer nicht auch Chlor in der Geflügelproduktion benutzen würden. Das machen sie überall. Man kann Hühner nicht in Batterien halten ohne eine Form von bakterieller Behandlung. Meiner Meinung nach wird es zu einer Verständigung kommen, die die höchstmöglichen Schutzmaßnahmen auf beiden Seiten sicherstellt. Bei den Verhandlungen über einen Binnenmarkt vor dreißig Jahren hatten wir die gleichen Probleme, nämlich wie man eine Harmonisierung zwischen unterschiedlichen Ländern erreichen kann.

STANDARD: Die Verhandlungen über TTIP sollten eigentlich bis Jahresende abgeschlossen sein. Wie viele Jahre Verhandlung erwarten Sie noch?

Lamy: Die Benchmark sind die Verhandlungen über einen EU-Binnenmarkt. Es kommt darauf an, wie viel man abdecken wird. Wenn man hundert Prozent haben will, wird das Jahrzehnte dauern.

STANDARD: Ein heikles Thema ist das Investorenschutzabkommen. Ist es notwendig, das in den Vertrag zu inkludieren?

Lamy: Das ist nicht notwendig. Es könnte ausgenommen werden. Das ist wichtig, wenn ein Unternehmen aus Europa oder den USA in einem kleinen Entwicklungsland investiert. Als Investor traut man oft dem Justizsystem nicht. Dann hat man ein Schiedsverfahren. Die Frage ist, ob man das zwischen der EU und den USA bzw. Kanada braucht.

STANDARD: Ist das nicht eine Frage des Vertrauens?

Lamy: Genau. Meine eigene Wahrnehmung ist, dass man in dem Fall den Gerichten wechselseitig trauen kann. Bei Verhandlungen werden am Anfang immer Extras dazugegeben, das könnte man aber wieder rausnehmen, zumal es zwangsläufig politischen Widerstand gibt.

STANDARD: Wie werden sich die Sanktionen der EU und der USA gegen Russland und umgekehrt auswirken?

Lamy: Die eingesetzten Waffen sind unterschiedlich. Die EU und die USA haben keine Handelssanktionen verhängt, sondern finanzielle oder solche, die Investitionen betreffen.

STANDARD: Sind das weichere Maßnahmen?

Lamy: Es sind andere. Die USA und die EU haben Maßnahmen verhängt, für die es keine globalen Regeln gibt. Die Russen haben Handelsrestriktionen verhängt, was rechtlich etwas anderes ist. Ökonomische Sanktionen schaden immer beiden Seiten.

STANDARD: Sind die Maßnahmen der Russen härter?

Lamy: Die Russen haben Maßnahmen gesetzt, die den klassischen Handel betreffen. Ich erwarte, dass dieser Fall auf dem Tisch der WTO landen wird.

STANDARD: Generell: Gibt es mehr Protektionismus seit dem Ausbruch der Finanzkrise?

Lamy: Die große Überraschung war, dass es das nicht gegeben hat. Das war der einzige Hund, der nicht gebellt hat. Es gibt mehr Disziplin.

STANDARD: Apropos Disziplin: Es gibt einen Disput zwischen Deutschland und Frankreich über Budgetdisziplin. Braucht Frankreich eine Reformagenda?

Lamy: Ich habe darüber kürzlich ein Buch geschrieben. Die französischen Probleme bestehen nicht wegen der Sparpolitik. Frankreich hat seit 40 Jahren Probleme mit dem Budget. Es gab seit 1974 keinen ausgeglichenen Haushalt mehr, und Massenarbeitslosigkeit ist seit den 1980er-Jahren ein Thema. Die Erosion der französischen Wettbewerbsfähigkeit begann auch schon vor dieser Krise. 80 Prozent der Probleme sind hausgemacht. Der Rest ist auf EU-Regeln zurückzuführen, denen Frankreich auch zugestimmt hat. Es gibt Solidarität auf EU-Ebene, wie man im Falle Griechenlands gesehen hat. Die deutsche Sicht, dass es im Gegenzug Disziplin und Einhaltung der Regeln geben muss, hat auch ihre Verdienste. Es gibt kulturelle Unterschiede, was den Ordoliberalismus betrifft. Wie gesagt, die französischen Probleme haben großteils mit Frankreich selbst zu tun.

STANDARD: Glauben Sie, dass Präsident François Hollande die Hausaufgaben macht?

Lamy: Ich hoffe. Die Richtung ist richtig, man muss das Budget in den Griff bekommen, die Arbeitslosigkeit bekämpfen und Wettbewerbsfähigkeit stärken. Es ist eine Frage des Maßes und der Geschwindigkeit. Beides ist meiner Ansicht nach zu gering. (Alexandra Föderl-Schmid aus Alpbach, DER STANDARD, 26.8.2014)