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2013 wurden die Arbeiten von Vivian Maier in Valladolid gezeigt.

Foto: epa/NACHO GALLEGO

349.000. So viele Ergebnisse spuckt Google heute in einer Zehntelsekunde aus, wird der Name "Vivian Maier" eingegeben. Das war bis vor wenigen Jahren noch nicht so. 2007 schrieb der Dokumentarfilmer John Maloof ein Buch über jenes Viertel in Chicago, in dem er aufgewachsen war. Deswegen ersteigerte er eine Kiste voller Negative, in der Hoffnung, an historisches Bildmaterial zu kommen. Die Negative gehörten einer Frau namens Vivian Maier. Das Material war hervorragend, "einige der besten Straßenfotos des 20. Jahrhunderts", wie Maloof es ausdrückt. Wer war diese Frau? Bei Google kein Eintrag.

Maloof begann zu recherchieren, fand ehemalige Adressen und Menschen, die Vivian Maier gekannt hatten, schließlich ihren gesamten Nachlass: tonnenweise Habseligkeiten, an die 150.000 Negative, 150 Filmrollen, aber auch persönliche Dinge. Kaum eines der tausenden Schwarz-Weiß-Porträts, die Vivian Maier in den Straßen von New York und Chicago mit ihrer Rolleiflex aufgenommen hatte, war entwickelt worden. Eine der begabtesten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts war ihr Leben lang im Hauptberuf, so findet Maloof heraus, Nanny, also Kindermädchen, und stellte ihr Werk nicht aus.

Nur ein Kindermädchen

Aber kann man im Fall von Vivian Maier überhaupt von Hauptberuf sprechen? Sie war schlicht und einfach Kindermädchen, und das nicht etwa, um "nebenberuflich" als Fotografin zu arbeiten. Verstand sie sich selbst überhaupt als solche? Diese Fragen trieben John Maloof dazu an, immer mehr über ihr Leben und Werk zu recherchieren und schließlich auch einen Film, "Finding Vivian Maier" zu drehen, der nun auch in Österreich zu sehen sein wird (Filmstart ist der 12. 9.).

Es ist nur konsequent, dass die Annäherung an das Mysterium Vivian Maier mit Porträts beginnt. Der Regisseur zeigt eingangs Menschen, die sie kannten, wortlos, nachdenkend. Dann erst beginnen sie zu sprechen. Das erste Wort: paradox. Ja, das ist es. Ein paradoxes Leben. Eine große Begabung, ein besonderer Blick für Alltagssituationen, für die Versehrten, die Beschädigten. Oft sind es Kinder, Betrunkene oder Verletzte, die Maier ab den 1950er-Jahren, einer Zeit, als dies noch nicht gang und gäbe war, als betrachtenswert erachtete. "Street-Photography", das passiert bei ihr oft auf Kniehöhe, nicht von oben herab.

Blick von unten

Dazu beigetragen hat sicher auch die Kamera selbst, die Rolleiflex, die sie um den Hals trug und bei der man von oben hineinschaut, auf Brusthöhe beim Scharfstellen. War sie, wie meistens, mit den von ihr beaufsichtigten Kindern unterwegs – und das durchaus auch in berüchtigten Armenvierteln –, ergab sich fast wie von selbst die für ihre Arbeiten typische Aufsicht, eben nicht Frosch-, sondern Maier-Perspektive.

Das ist aber auch schon alles, was sich mit Sicherheit sagen lässt. Denn dann, und das arbeitet Maloof in seinem Film sehr schön heraus, beginnen schon die Widersprüche: Sagen die einen, sie habe die Kamera immer bei sich gehabt, wissen andere, bei denen sie jahrelang als Nanny lebte, nicht einmal, dass sie fotografierte.

Maier blieb zeitlebens unverheiratet und kinderlos, über schreckliche Erfahrungen in der Kindheit wird nur spekuliert. Es ist John Maloof und Charlie Siskel (beide Drehbuch und Regie) hoch anzurechnen, dass sie Maiers Werk viel Platz einräumen, bevor es um Biografisches geht. Vivian Maier in personam kommt erst relativ spät ins Bild, in Selbstporträts, die über die Jahre hinweg immer wieder entstanden.

Messie-Syndrom

War sie Französin? Hatte sie sich einen leichten französischen Akzent nur als Marotte zugelegt? Die Beantwortung dieser Fragen in den Interviews, die Maloof im Film führt, ist einer der humoristischen Höhepunkte. Aber auch unangenehme Kapitel bleiben nicht ausgespart. War Maier immer nur das liebende Kindermädchen oder hatte sie auch dunkle Seiten? Der Film dokumentiert deutlich die mit zunehmendem Alter obsessiv werdende Sammelleidenschaft der Protagonistin, heute nennt man das "Messie-Syndrom".

Dies könnte auch eine mögliche Erklärung für all die Kisten voller Negative sein, die mit den Jahren von meterhohen Zeitungsstapeln, die Maier ebenfalls hortete, umgeben waren. Vielleicht wollte sie all diese Gesichter, all diese Leben einfach sammeln, so wie sie Klebebildchen sammelte und ungeöffnete Briefe. Maloof legt sich nicht fest, überlässt der Betrachterin die Beurteilung. Sein Fokus liegt auf der Künstlerin Vivian Maier, deren Werk er editiert und ins MoMA bringen will.

Für Aufmerksamkeit jedenfalls hat er gesorgt. Ähnlich wie bei dem Musiker Sixto Rodriguez, auf dessen Spuren sich Malik Bendjelloul in seinem Oscar-prämierten Film "Searching for Sugar Man" heftete, soll jemandem endlich Ehre und Ruhm zuteil werden. Wahrscheinlich, und das macht beide Filme so sympathisch, wird hier ein zutiefst menschliches Bedürfnis berührt: dass jemandem spät, aber doch Gerechtigkeit widerfährt – oder dass Märchen wahr werden. Manchmal jedenfalls. (Tanja Paar, dieStandard.at, 27.8.2014)