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Das Präparat der Wandertaube Martha ist zu einer Art Denkmal für den Artenschutz geworden.

Foto: AP Photo/Susan Walsh

Washington - Es ist ein äußerst seltenes Ereignis, dass sich das Verschwinden einer ganzen Spezies derart exakt datieren lässt - doch in diesem Fall geht es: Am 1. September 1914 verschwand die Wandertaube (Ectopistes migratorius) von der Erde. Damals starb im Zoo von Cincinnati, Ohio, mit Martha das letzte Exemplar dieser Art.

Associated Press

Dieses Ereignis gilt als besonders symbolträchtig für das vom Menschen verursachte Artensterben. Denn es war nicht irgendeine Spezies, die da ausgerottet worden war: Noch ein knappes Jahrhundert zuvor hatte die Wandertaube als häufigster Vogel Nordamerikas, vielleicht sogar der ganzen Welt gegolten. Das ist im Nachhinein schwer bestimmbar, aber die einstigen Bestände werden auf drei bis fünf Milliarden Tiere geschätzt.

Berichte aus dem 19. Jahrhundert sprechen von den gigantischen Schwärmen, in denen die Tiere auf ihren saisonalen Wanderungen zwischen Kanada und den Großen Seen und ihren Winterquartieren in den US-amerikanischen Südstaaten hin und her zogen und "den Himmel verdunkelten". Ein Bericht aus dem Jahr 1866 beschreibt einen Schwarm, der eineinhalb Kilometer breit und 500 Kilometer lang gewesen sein soll. 14 Stunden habe es gedauert, bis er zur Gänze am Beobachtungspunkt vorbeigezogen war.

Die Spezies

Mit etwa 40 Zentimetern Körperlänge war die Wandertaube, die sich von Samen und Beerenfrüchten, aber auch von Würmern und anderen Kleintieren ernährte, etwas größer als die bei uns omnipräsente Stadttaube. Sie hatte einen langen keilförmigen Schwanz, zugespitzte Flügel und rote Füße. Während die Weibchen bräunlich waren, fielen die Männchen mit rotem Brustgefieder und bläulich-grauer Färbung an der Oberseite auf - nicht dass man die Wandertauben übersehen hätte können, denn sie traten in Massen auf.

Am liebsten brüteten sie in Kolonien - manchmal trug ein einziger Baum hunderte Nester der Tiere. Brachen sie zur Wanderung auf, versammelten sich die Tiere aus zahllosen solcher Kolonien zu Megaschwärmen. Ihr Sozialverhalten dürfte der Wandertaube letztlich aber auch zum Verhängnis geworden sein.

Zum einen wurden die Tiere massenweise bejagt, ihr Fleisch galt als schmackhaft und leicht zu bekommen, da sich so viele von ihnen auf engem Raum erwischen ließen. Während die amerikanischen Ureinwohner noch eine nachhaltige Jagd betrieben hatten, rückten die europäischen Siedler den Tieren mit Schusswaffen, Netzen und brennendem Schwefel zu Leibe - einer einzigen Jagdkampagne in einer Brutkolonie konnten Millionen Tiere zum Opfer fallen. Moderne Technik beschleunigte den Prozess: Eisenbahnlinien drangen immer weiter ins Land vor, das Telegrafennetz ermöglichte es, die Position neuentdeckter Brutkolonien rasch weiterzugeben.

Zusammenspiel fataler Faktoren

Zum anderen machte ihre Lebensweise sie auch anfällig für natürliche Bedrohungen. Vor wenigen Monaten erst veröffentlichten taiwanesische Forscher basierend auf Proben aus verschiedenen Präparaten eine Studie zum Erbgut der Wandertaube. Offenbar verfügten die Tiere trotz ihrer enormen Anzahl über eine geringe genetische Vielfalt: ein ungünstiger Umstand, wenn sich innerhalb der Kolonien Krankheiten ausbreiteten.

Anfälligkeit gegenüber Infektionen und ein schwankendes Nahrungsangebot führten den Forschern zufolge dazu, dass die Gesamtzahl der Wandertauben im Verlauf der Jahrtausende mehrfach stark ab- und wieder zugenommen haben dürfte. Zwar erholten sie sich von früheren Einbrüchen stets - doch als die massenhafte Bejagung durch den Menschen und die Abholzung der Laubwälder, in denen die Tauben bevorzugt lebten, als weitere Faktoren dazukamen, war es zu viel.

Die Letzte ihrer Art

Niemand konnte übersehen, dass die Bestände im Verlauf weniger Jahrzehnte immer kleiner wurden. Dass sie vollends verschwinden könnten, hätte damals jedoch niemand für möglich gehalten - wie auch das Medienecho zeigt, das der Tod Marthas im Jahr 1914 auslöste. Die letzte wildlebende Wandertaube war schon 14 Jahre zuvor abgeschossen worden.

Martha, vermutlich im Jahr 1885 geschlüpft und nach der ersten First Lady der USA, Martha Washington, benannt, gehörte zu den wenigen verbliebenen Exemplaren der Spezies, mit denen man in verschiedenen Zoos eine Nachzucht versuchte.

Doch was beim Bison zum Glück gelang - nämlich eine Spezies kurz vor der vollkommenen Ausrottung gerade noch zu retten -, scheiterte bei den Wandertauben. Die Tiere konnten in Gefangenschaft nicht zum Brüten gebracht werden, vermutlich weil ihnen die dafür nötige Umgebung - eine Kolonie von Artgenossen - fehlte. Auch Martha blieb trotz einiger männlicher Gefährten, die sie in ihren ersten Jahren im Zoo von Cincinnati noch gehabt hatte, kinderlos.

Nach dem Ende ... und vor einem neuen Anfang?

Nach ihrem Tod wurde Marthas Körper eingefroren und zur Smithsonian Institution gebracht. Ihr ausgestopfter Körper und ihre inneren Organe wurden lange Zeit im Washingtoner National Museum of Natural History aufbewahrt. Derzeit ist das Präparat wieder im Zoo von Cincinnati zu sehen.

Vielleicht ist damit aber noch nicht das allerletzte Wort gesprochen: Mehrere Museen haben in ihren Beständen gut erhaltene Präparate von Wandertauben. Theoretisch könnte sich daraus Erbgut gewinnen lassen, um Wandertauben zu klonen, glauben manche Wissenschafter, die von privaten Initiativen wie der Long Now Foundation unterstützt werden. Vorerst ist das "Zurückholen" einer bereits ausgestorbenen Art allerdings immer noch Science-Fiction. (jdo, derStandard.at, 31. 8. 2014)