Es war Ende Februar, als auf dem Maidan in Kiew die bis dahin weitgehend friedlichen Proteste eskalierten. Vor den Augen von drei EU-Außenministern aus Deutschland, Frankreich und Polen, die zur Vermittlung zwischen den proeuropäischen Demonstranten und dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch angereist waren, ereignete sich ein Blutbad. Fast 80 Menschen starben an einem einzigen Tag, von Heckenschützen eiskalt abgeschossen.

Nicht nur die Menschen in der Ukraine und die Außenminister waren geschockt. Auch im Rest Europas wurden die Ereignisse mit Entsetzen beobachtet. Ein derartiges Ausmaß an Gewalt, ein Blutbad, das über soziale Medien live in alle Wohnzimmer übertragen wurde, hatte man 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einfach nicht mehr für möglich gehalten. Abgesehen von den Bürgerkriegen in Jugoslawien in den 1990er-Jahren war die Entwicklung nicht nur der EU, sondern auch der Nato doch von Entspannung und Kooperation getragen - auch mit Russland. Eine sicherheitspolitische Gefährdung, gar Krieg in Europa, wurde als Möglichkeit ausgeschlossen.

Die Union wuchs seit 1995 von einer Zwölfer-Gemeinschaft zu einer EU mit 28 Mitgliedern, ausgeweitet vor allem nach Osteuropa. Die atlantische Allianz nahm eine ganz ähnliche Entwicklung, wobei sie - nach dem feierlich deklarierten Ende des Kalten Krieges - auch zu einer (relativ) engen Partnerschaft mit Russland fand, auf Augenhöhe sozusagen: Ein eigener Rat wurde geschaffen.

Plötzlich gingen russische Offiziere im Nato-Hauptquartier in Brüssel ein und aus. An genau diese Hintergründe muss man erinnern, um das ganze Ausmaß der sicherheitspolitischen Veränderung zu erfassen, vor der die Europäer heute stehen. Ein Scherbenhaufen. Verblüffend ist, wie rasch das gegangen ist. Es ist nur sechs Monate her, seit der korrupte Präsident Janukowitsch sein Land Hals über Kopf und über Nacht verlassen hat.

In der Zwischenzeit herrscht in der Ukraine längst Krieg, auch wenn die Regierung das offiziell bestreitet. Nach UN-Angaben sind bisher 3000 Menschen gestorben, Hunderttausende auf der Flucht. So hat es einst auch in Jugoslawien angefangen. Seit Februar hat die Welt nicht nur eine, sondern gleich zwei völkerrechtswidrige Interventionen durch Russland erlebt. Präsident Wladimir Putin lässt seinen Militärs und Geheimdiensten offenbar freie Hand, die russischen Separatisten in der Ostukraine weiter zu militarisieren. Es sieht danach aus, dass er keinen Grund hat, seine Strategie zu ändern. Warum auch?

Sie hat bisher bestens funktioniert. Putin konnte damit rechnen, dass die europäischen Staaten in der EU bzw. in der Nato ihrer für ihn wichtigsten Eigenschaft folgen: der Unentschlossenheit und der Uneinigkeit, weil sie die unterschiedlichsten Interessen verfolgen. Sechs Monate nach dem Blutbad auf dem Maidan muss man ernüchtert festhalten, dass die Europäer - es ist ihr Konflikt - politisch, diplomatisch völlig versagt haben. Von einem EU-Gipfel zum nächsten, von einer Mini-Sanktion zur anderen haben sie viel zu viel Zeit verspielt, um Druck aufzubauen, politische Lösungen zu ermöglichen. Militärisch, da sind sich praktisch alle Experten in EU und Nato einig, wäre der Konflikt nicht zu gewinnen. Es muss also, ob man will oder nicht, eine politische Initiative her. Sonst wird die Bilanz in sechs Monaten verheerend sein. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 29.8.2014)