Der jahrzehntelang vertuschte Missbrauchsskandal von Rotherham zieht in Großbritannien weiter Kreise. Die konservativ-liberale Koalition will organisatorische sowie mögliche gesetzgeberische Konsequenzen bekanntgeben. Die Opposition fordert eine unabhängige Untersuchung, die über einzelne Städte und Tätergruppen hinausgeht und das Problem in seiner Gesamtheit betrachtet, sagte Labour-Chef Edward Miliband am Wochenende.

Nach unbestätigten Medienberichten planen Polizeibehörden in mehreren Regionen, darunter auch Schottland, umfangreiche Razzien, die Rede ist von hunderten weiterer Tatverdächtiger.

In der rund 120.000 Einwohner zählenden Stadt Rotherham wurden zwischen 1997 und 2013 mindestens 1400 Minderjährige missbraucht, belegt ein vor wenigen Tagen veröffentlichter Bericht. Rund ein Drittel der Opfer waren behördenbekannt. Beweise wurden laut Untersuchungsleiterin Alexis Jay unterdrückt oder ignoriert. Weil die Täter überwiegend pakistanischer Herkunft und ihre Opfer fast ausschließlich Weiße waren, schreckten Hilfsorganisationen und Strafverfolger aus Angst vor Rassismusvorwürfen zurück.

Hinweise missachtet

Seit Professor Jays Veröffentlichung melden sich in den Medien immer neue Betroffene mit haarsträubenden Details zu Wort. Eine vom Innenministerium beauftragte Expertin hatte den Kommunalbehörden bereits 2002 Details zu damals etwa 50 minderjährigen Mädchen geliefert, die systematisch zur Prostitution abgerichtet wurden. Im Englischen ist dabei von "grooming for sex" die Rede. Die Erkenntnisse der Expertin wurden ignoriert, die Behörden drehten ihr den Geldhahn zu.

Eltern missbrauchter Jugendlicher berichten von dutzenden vergeblichen Anrufen bei der Polizei. Beweismittel wie Kleidung, die ein Mädchen bei ihrer Vergewaltigung getragen hatte, verschwanden in Polizeiverwahrung. Hinweisen auf Autokennzeichen und Fastfood-Shops, wo sich die Täter trafen, ging niemand nach. "Irgendwann haben wir die Kripo gar nicht mehr verständigt", berichtet eine beteiligte Sozialarbeiterin.

Immerhin kam es 2010 zur Verurteilung einer fünfköpfigen Gang asiatischer Briten aus Rotherham. Auch in anderen englischen Städten wie Rochdale und Derby haben Strafverfahren zu Verurteilungen geführt. Freilich weisen Ermittler und Staatsanwälte auf ein schwieriges Problem hin: Nach englischem Recht müssen Anklagen vor Gericht eine gute Chance auf Erfolg haben. Immer wieder scheitern Strafverfahren gegen Sexualtäter, weil die Geschworenen den minderjährigen, häufig eingeschüchterten Zeuginnen weniger Glauben schenken als den Angeklagten.

Armut häufig vertreten

Neben dem Unwillen der Behörden, den häufig pakistanisch-stämmigen Tätern auf den Zahn zu fühlen, geht es in der Diskussion um die Ursachen der immer neuen Skandale um die Marginalisierung der meist armen, ungebildeten Opfer. In einer Studie für die schottische Regierung umriss Professor Jenny Pearce von der Universität Bedfordshire in Luton schon 2011 die Risikogruppen.

Zwar gebe es Sexualverbrechen gegen Kinder und Jugendliche in allen Bevölkerungsgruppen und -schichten. Doch werden Mädchen und Buben aus armen Bezirken häufiger zu Opfern, weil dort Gewalt eher als anderswo zur Normalität zählt, berichtet die Leiterin eines Forschungsinstitutes. Zudem gelten Missbrauchte diversen Studien zufolge bei Sozialarbeitern und Kriminalbeamten schnell als "unkooperativ, unzuverlässig, aggressiv" .

Der frühere Rotherhamer Jugendamtsleiter Shaun Wright verweigert weiterhin den Rücktritt vom Posten des unabhängigen Polizeiaufsehers für die Region Süd-Yorkshire. Wiederholt hat er sich bei den Überlebenden des Missbrauchs entschuldigt, will seinen Job (Jahresgehalt: 107.000 Euro) aber behalten. Die Labour-Party will nach einem Wahlsieg im kommenden Jahr die Funktion des vom Volk gewählten Polizei-Aufsehers, die erst 2012 eingeführt wurde, wieder abschaffen. (Sebastian Borger aus London, DER STANDARD, 2.9.2014)