Erwin Wagenhofer macht Filme, Martin Haiderer Wiener Tafel.

Foto: Thomas Topf

derStandard.at: Euer Blick auf die Welt – auf unsere Wirtschaftssysteme – was seht Ihr?

Wagenhofer: Wir leben in einer speziellen Zeit der Umbrüche. Die Frage für mich ist: Was kann ich beitragen? Da ist meine Antwort: Geben ist schöner als Nehmen – aus diesem Grund mache ich Geschichten.

derStandard.at: Was gibst Du?

Wagenhofer: Privat ist das etwas anderes, aber öffentlich kommt eben meistens ein Film raus. Das Wichtigste dabei ist das Timing. Manche Filme kommen zu spät, andere zu früh, da versteht sie noch keiner. Mich interessiert die Welt, wie sie sein könnte – dafür ist die Zeit jetzt reif, die kritische Masse ist da. Ein paar Menschen lernen ja schon, deswegen mache ich jetzt diese Filme.

derStandard.at: Hat das auch spirituelle Komponenten?

Wagenhofer: Ja sicher, wenn wir über Wachstum reden, dann ist das Interessante ja das persönliche Wachstum. Da geht es darum, in ein anderes Bewusstsein zu kommen. Um die Entwicklung in eine andere Stufe der Evolution zu schaffen.

derStandard.at: In eine höhere?

Wagenhofer: Genau das muss aufhören. Anders. Höher klingt wertend. Wir sollten diese Wertungen sein lassen. Wir haben für das Neue noch nicht die Worte, noch nicht die Sprache. Kann man zum Beispiel Kinder er-ziehen? Be-ziehen wäre da schon besser. Unter-richten? Richten – also nein! Deswegen hacke ich so herum auf höher-tiefer...

derStandard.at: Gut – also auf- und wachrütteln, bewusster machen...

Haiderer: Das Privileg der Kunst ist es, aufzuzeigen, was verkehrt läuft. Für mich als sozialer Innovator ist damit nur der halbe Weg gegangen, weil: Was mache ich dann? Dann fehlt der nächste Schritt. Den kann aber jede und jeder im Umfeld tun, damit die Welt eine bessere wird. Gandhi ist da für mich das Vorbild, wonach der erste Schritt der Veränderung bei einem selbst geschieht. Da ist die Wiener Tafel ein gutes Beispiel – 400 Menschen zeigen, was möglich ist – sich Zeit nehmen für andere, zeigen, wie eine gerechtere Welt aussehen kann. Ohne Spiritualität und Sinn ist das nicht denkbar. Wie Viktor Frankl sagt: Sinn muss man sich schaffen.

derStandard.at: Was ist Auslöser für ein solches Handeln, für eine solche Veränderung in sich selbst?

Haiderer: Das Bewusstsein muss schon da sein. Betroffenheit ist meist der Auslöser. Das kann, muss aber nicht eine Krankheitserfahrung sein. Es kann auch eine neue Liebe sein.

Wagenhofer: … Grenzsituationen eben, die alte Glaubenssätze ins Wackeln bringen.

derStandard.at: Könnt Ihr wählen oder müsst Ihr tun, was Ihr tut? Sind Eure Treiber und Überzeugungen so stark, dass der Weg eindeutig ist? Ihr hättet ja auch andere Berufsbiografien schreiben können...

Wagenhofer: Ich hatte das Privileg, dass ich sehr schnell, mit 16 oder 17 erfahren habe, was meine Gabe ist. Wenn man die Gabe kennt und sie nicht ganz verbogen wurde, dann ist das ein großes Glück. Mein großes Glück war, dass ich ein schlechter Schüler war – ich bin schon durchgekommen und habe in dieser Zeit viel gelernt, aber halt nicht in der Schule, sondern mit und von Freunden. So kommt dann die Gabe zum Geben, dann kann man schnell erkennen, dass Geben schöner ist als Nehmen. Wenn du das erkannt hast und konsequent bist, dann musst du tun, was du tun musst. Ja, das ist auch schmerzhaft. Im Wort Leidenschaft steckt ja eh schon leiden drin. Wenn du mehr beitragen willst, musst du ganz schön etwas geben.

Haiderer: Rund um die Gründung der Wiener Tafel habe ich viele Expertinnen und Experten befragt – eigentlich haben alle gesagt, dass so ein Projekt keine Chance hat. Ich war aber überzeugt. Die Mitstreiter auch. Wir wollten das in die Welt bringen. Die ersten Jahre waren teilweise sehr steinig. Wir haben aber aus den Steinen Brücken gebaut.

derStandard.at: Haben wir noch genug Zeit um uns zu verändern bevor wir den Planeten – uns selbst – zerstören? Ist Veränderung rechtzeitig möglich?

Wagenhofer: Möglich ist für mich das Stichwort, ich bin weder Pessi- noch Optimist. So gesehen halt Possibilist. 7,2 Milliarden Menschen auf der Erde – das sind riesige Herausforderungen, die ein Individuum gar nicht denken kann. Aber ja, ich weiß, dass es möglich ist. Schaut doch einmal, wo die Menschen in Österreich am liebsten arbeiten: Dort, wo man kein Geld verdient – bei der Freiwilligen Feuerwehr. Meine Mutter macht seit 40 Jahren Essen-auf-Rädern, das füllt sie wirklich glücklich aus. Geldverdienen sollte ja ein Nebeneffekt sein. Überhaupt gehört die Arbeitswelt radikal hinterfragt: Die meisten Leute haben ja keine Arbeit, sondern einen Job. In dieser industrialisierten Welt ist komplett der Bezug verloren gegangen. Das sind Abwege.

Haiderer: Das erlebe ich auch bei der Wiener Tafel. Wir haben viele Menschen aus Spitzenjobs die sagen, dass das, was ihnen wirklich etwas gibt, die emotionale und menschliche Anerkennung ist. Ob der Zug abgefahren ist? Es ist prekär. Wir werden uns überlegen müssen, was von dem Wohlstand, den wir haben, verzichtbar ist. Ich halte es mit Blaise Pascal, der sagte, dass Pessimisten die wahren Optimisten seien, weil sie ja Handlungsimperative haben, also: krempeln wir die Ärmel hoch, damit wir die Kurve kratzen für einen Planeten, auf dem wir alle leben können.

derStandard.at: Lässt sich ein Hauptproblem in diesem Zusammenhang formulieren?

Wagenhofer: Unser Hauptproblem ist, dass wir ein so unvorstellbar grausliches Bild von uns selber haben: Die Menschen sind faul, Kinder kommen leer auf die Welt, ohne Zwang und Druck geht gar nichts... der Ansatzpunkt liegt für mich in diesem schrecklichen Menschenbild, das immer das Schlechteste annimmt. Wir leben ja in einem unglaublichen Paradoxon: Einerseits haben wir sehr hochstehende Werte, auch in der christlichen Soziallehre. Der Pabst ist ja fast schon der einzig Linke auf dem Planeten. Andererseits sollen wir aber konsumieren bis zum Umfallen, damit die Wirtschaft funktioniert, die anderen übers Ohr hauen, Niederhauen, damit wir schneller und besser sind. Wir sollen liebevoll und empathisch sein – aber die Konkurrenten ausstechen. Dieser Gap ist zu groß geworden in den vergangenen 30 Jahren. Wir sind eine so entsolidarisierte Gesellschaft geworden. Das will niemand, dass der andere tot vor einem liegt. Besser werden ist gut – aber in welchem Sinn und wofür? Doch nicht gegen jemanden: Wenn ich besser sein will als der Haneke und bessere Filme machen will, dann bin ich ein Vollidiot. Ich kann nicht was er kann und umgekehrt. Lasst doch die Leute in ihren Talenten, in ihrem Vermögen. Darum geht es – und sicher nicht um ein neues Handy alle zwei Jahre. Wir müssen uns endlich aus den Autobahnen bewegen – da kann eh keiner mehr schnaufen. Wir brauchen eine andere Sicht auf ein und dasselbe Ding.

Haiderer: Die Philosophie streitet sich, ob der Mensch nun gut oder böse sei. Jedenfalls wird er durch Nachahmung zu dem, was er ist. Wir werden auf Ellenbogen und Konkurrenz getrimmt – das ist sozialdarwinistisch und darf durch alle Erkenntnisse zu Symbiose und Kooperation für ein gelingendes Zusammenleben revidiert werden. Der Schlüssel für die Zukunft liegt für mich in der Achtsamkeit.

derStandard.at: Sehr buddhistisch...

Wagenhofer: Ja. Ich habe auch aufgehört, Fleisch zu essen, weil das gar nicht geht, wie wir mit unseren Tieren umgehen... Berge von vernichteten Rindern, Millionentonnen von Schweinen... und wir lernen nichts...

Haiderer: Ich habe in der Schule aufgehört, Tiere zu essen. Die Entscheidung zwischen Wurst- und Käsesemmel fällt nicht schwer, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel Leid in einer Wurstsemmel steckt. Schmeckt gleich viel besser die Käsesemmel.

derStandard.at: Also eigentlich freudvolle Veränderung?

Haiderer: Ja – und wenn wir das alle ein Stück weit tun, dann ist die Welt besser.

Wagenhofer: Aber Veränderung bringt Verunsicherung und die bringt Angst. Wir leben ja in einer geschlossenen Angstgesellschaft mit offenen Türen und Fenstern. Wer raus geht läuft Gefahr, ein Messer in den Rücken zu kriegen.

derStandard.at: 15 Jahre Wiener Tafel – wo liegt das Glück in den kommenden Jahren?

Wagenhofer: Das Schönste wäre ja, solche Organisationen gar nicht mehr zu brauchen...

Haiderer: Ja. Wäre. Die Herausforderungen werden aber größer. Also: Die Wiener Tafel ist so gut wie erwachsen mit 15. Das heißt auch etabliert, was ja nicht schadet – mittlerweile kommen die Unternehmen zu uns und wollen kooperieren. Wir haben gelernt, uns mit allen Stakeholdern auszutauschen. Jetzt können wir ruhig wieder etwas frecher und aufmüpfiger werden - wieder mehr zum Stachel im Fleisch gesellschaftlicher Schieflagen. Innovation kommt ja aus Irritation. (derStandard.at, 05.09.2014)