Trojanows Operama

Unser gegenwärtiges Opernleben ist reichhaltig, aber ist es auch relevant? Auf subjektiv eigenwillige Weise, in einem literarischen Ton, wird Ilija Trojanow die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand von aktuellen Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob und wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab.

Der fliegende Holländer – Richard Wagner
Staatsoper Wien, 3. September 2014. Saisoneröffnung

Bild: Oliver Schopf

Im Hause Dolands hängen an der hinteren Wand, unter einem mysteriösen Taubenkobel im Dachstuhl, die Porträts vierer Männer, denen Sentas Schwärmerei gilt. Wilde Gesellen, Provokateure, Freidenker. Der zweite von links ist Michail Bakunin, der russische Anarchist, dessen Geburtstag sich heuer zum zweihundertsten Mal jährt. Das ist mitnichten ein willkürlicher Wink. Wenige Menschen haben Wagner so sehr beeindruckt wie Bakunin und man könnte, angeregt von den Spekulationen George Bernard Shaws, Bakunin habe das lebende Vorbild für Siegfried abgegeben, in der Figur des fliegenden Holländers, der so sehr außerhalb aller Konventionen steht, eine Überstimmung mit Bakunin sehen. Auch er war ruhe- und rastlos, ein Getriebener, auch er ein "Schrecken der Frommen", auch er ein Mann, der viel Verehrung und Bewunderung hervorrief, doch nirgendwo auf Erden heimisch wurde. Wem dies zu weit hergeholt erscheint, der sei darauf hingewiesen, dass die brave, fade, laue Inszenierung, die den althergebrachten Frontalgesang zu neuerlicher rigider Blüte bringt, sonst wenig anbietet, was die eigenen Gedanken anregen, was der Urgewalt des fliegenden Holländers gerecht werden könnte. Wenn Wagners Kühnheit liliputanisiert wird, helfen Gedanken an Bakunin weiter.

Foto: Michael Poehn / Wiener Staatsoper

Wagner hat in Dresdner Tagen Bakunin zu einem gemeinsamen Opernprojekt über Prometheus gedrängt. In einem Dramolett hat der Wiener Kabarettist Fritz Herrmann die Differenzen zwischen Bakunins tatkräftigem und Wagners konzeptionellem Revolutionseifer auf einen gewitzten Punkt gebracht. Was immer Wagner an vertrackten Ideen vorbringt, Bakunin hält dagegen, der Chor brauche doch nur "hängt ihn auf", "brennt es nieder" oder "schafft es ab" zu singen. Angesichts der Redundanz des Librettos (das Ideal der weiblichen Treue etwa wird reichlich ausgewalzt) wünscht man sich ein wenig von Bakunins explosivem Minimalismus ins Textbuch. Wenn zudem Senta derart steif und vokal eindimensional auftritt, wirkt sie wie das Abziehbild eines längst überkommenen, aus heutiger Sicht geradezu lächerlichen Geschlechterideals, der von den Damen in der Staatsoper mit gellenden Pfiffen quittiert werden müsste, wäre man nicht in solchen Häusern zu wohlerzogen für derartige Reaktionen. Leider hat Wagner nicht genug von Bakunin gelernt, der im Gegensatz zu anderen progressiven Denkern der Epoche in seinem radikalen Freiheitsbegriff niemals einen Unterschied zwischen Frauen und Männern machte.

Foto: Michael Poehn / Wiener Staatsoper

Meine romantische Vorstellung von einer besonderen Aura der Saisoneröffnung, genährt - so vermute ich - von alten Filmen und Romanen, erwies sich als unangemessen. Vielleicht lag es daran, dass die Oper ohne Pause gespielt wurde, was die dichte Einheit des Werks betonte und einen von nervigen Applausorgien bis zum letzten Vorhang verschonte. Vielleicht sprießen inzwischen im Sommer die Opernevents so reichlich, so dass man nicht mehr das Gefühl hat, eine Fastenzeit durchstanden zu haben, die nun mit einem feierlichen Gelage zu beenden ist.

Höhepunkt

Wieder einmal Bryn Terfel, obwohl er wenig Gelegenheit erhielt, seine schauspielerisches Talent unter Beweis zu stellen. Aber seine Bandbreite zwischen Wucht und Zärtlichkeit, seine gesangliche Präsenz und Präzision und seine perfekte Aussprache (ein Lob den unbesungenen Helden und Heldinnen der Oper, den Aussprachelehrern!) waren großartig.

Coda

Die Wiener Staatsoper überträgt die Vorstellung von "Der fliegende Holländer" am 12. September 2014 im Livestreaming. (Ilija Trojanow, derStandard.at, 13.8.2014)