Unterschiedlich geformte Vesikel.

Illu: Hohmann/Nano Initiative Munich

Künstliches Minimalmodell für Zellverformungen. Die eingeschlossenen Biomoleküle bilden eine aktive Schicht an der Membran, die eine fortwährende Bewegung antreibt.

Foto: Keber/Loiseau/Sanchez/Bausch/TUM

München - Eine Zelle ist ein komplexes Gebilde mit einem ausgeklügelten Stoffwechsel. Ihr evolutionärer Vorfahr, die Urzelle, bestand hingegen nur aus einer Membran und wenigen Molekülen. Dabei handelte es sich um ein minimalistisches, aber bereits perfekt arbeitendes System.

Zurück zu den Ursprüngen der Zelle lautete auch das Motto einer internationalen Forschergruppe um Andreas Bausch von der Technischen Universität München (TUM). Ihnen ist es gelungen, ein minimalistisches Zellmodell zu verwirklichen, das sich von ganz alleine verformt und bewegt. Das Modell setzt sich zusammen aus einer Membranhülle, zwei verschiedenen Sorten von Biomolekülen und einer Art Kraftstoff. Wie sie das geschafft haben, beschreiben sie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Science".

Molekulare Motoren

Die Hülle, auch als Vesikel bezeichnet, besteht aus einer zweischichtigen Lipidmembran, analog zu natürlichen Zellmembranen. Die Vesikel füllten die Forscher mit Mikrotubuli, einem röhrenförmigen Bestandteil des Zellskelettes, und mit Kinesinmolekülen. Kinesine dienen gewöhnlich in der Zelle als molekulare Motoren, die entlang der Mikrotubuli Zellbausteine transportieren.

Im Experiment schieben diese Motoren die Röhrchen permanent aneinander entlang. Dafür benötigen Kinesine den Energieträger ATP, der im Versuchsansatz ebenfalls vorhanden ist.

Die Mikrotubuli-Röhrchen bilden im Experiment physikalisch gesehen direkt unter der Membran einen zweidimensionalen Flüssigkristall, der ständig in Bewegung ist. "Man kann sich diese Flüssigkristallschicht vorstellen wie Baumstämme, die auf einem See treiben", erklärt Felix Keber, Erstautor der Studie. "Wird es zu dicht, ordnen sie sich parallel an und können doch noch aneinander vorbei treiben."

Poincaré–Hopf-Theorem

Entscheidend für die Deformation der künstlichen Zellkonstruktion war nun, dass der Flüssigkristall schon im Ruhezustand in Kugelform immer Fehlstellen bilden muss. Mathematiker erklären dieses Phänomen mit dem sogenannten Satz von Poincaré–Hopf, oder anschaulich mit dem "Satz des Igels": So wie man die Stacheln eines Igels nicht kämmen kann, ohne dass mindestens eine kahle Stelle entsteht, können sich auch die Mikrotubuli nicht komplett gleichmäßig von innen an die Membranwand anlagern.

Die Röhrchen stellen sich daher an einige Stellen leicht quer zueinander, und zwar in einer ganz bestimmten Weise. Da sich im Fall des Experiments der Münchner Forscher die Mikrotubuli durch die Aktivität der Kinesinmoleküle zudem ständig aneinander entlang bewegen, wanderen auch die Fehlstellen. Erstaunlicherweise tun sie dies auf eine sehr gleichmäßige und periodische Art und Weise, oszillierend zwischen zwei definierten Anordnungen.

Stachelförmige Fortsätze

Solange der Vesikel eine Kugelform bildet, haben die Fehlstellen zwar noch keinen Einfluss auf die äußere Form der Membran. Sobald ihm aber über Osmose Wasser entzogen wird, beginnt er, sich durch die Bewegungen im Inneren zu verformen. Verliert der Vesikel mehr und mehr Wasser, so entstehen aus der überschüssigen Membran sogar stachelförmige Fortsätze, wie sie einige Einzeller zur Fortbewegung nutzen.

Dabei bilden sich faszinierend viele unterschiedliche Formen und Dynamiken. Was auf den ersten Blick beliebig erscheint, gehorcht in Wahrheit physikalischen Gesetzen. Und so ist es dem Forscherteam auch gelungen, einige Gesetzmäßigkeiten zu entschlüsseln - etwa das periodische Verhalten der Vesikel. Auf deren Grundlage lassen sich wiederum Vorhersagen für andere Systeme treffen.

"Mit unserem synthetischen biomolekularen Modell haben wir eine ganz neue Möglichkeit geschaffen, um minimale Zellmodelle zu entwickeln", erklärt Bausch. "Es ist ideal geeignet, um modular die Komplexität zu erhöhen und so kontrolliert zelluläre Prozesse wie Zellmigration oder Zellteilung nachzubauen." Dass das künstlich geschaffene System vollständig physikalisch beschrieben werden kann, lasse zudem darauf hoffen, dass künftig auch die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der vielfältigen Zellverformungen identifiziert werden können. (red, derStandard.at, 8.9.2014)