Wien - Die Problematik mutet widersprüchlich an. Bundesweit klagen Spitäler und medizinische Einrichtungen über einen akuten Mangel an Ärzten. Notarztdienste können in den Bundesländern stellenweise kaum noch aufrechterhalten werden. Dem gegenüber stehen aktuelle Statistiken der OECD, die Österreich eine ausgezeichnete Ärztedichte bescheinigen. Österreich rangiert, was die Zahl der Ärzte gemessen an der Einwohnerzahl anbelangt, unter 34 Industrienationen an zweiter Stelle. Wie ist das Paradoxon zu erklären? Wo sind die Ärzte?

Der Schlüssel liege bei den Wahlärzten, sagt Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer. Diese werden "an sich totgeschwiegen", weil sie nicht dem medizinischen Kassen-Versorgungssystem zugerechnet werden. Dabei ist ihre Zahl stetig im Steigen. Momentan arbeiten bereits 8000 Mediziner als private Wahlärzte - das sind mehr als die Gruppe der Kassenärzte. "Immer weniger wollen sich das System der Kassenverträge mit der Pauschalvergütung antun", sagt Pichlbauer. Es sei weit attraktiver, abseits des "Gängelsystems der Kassen" zu arbeiten.

Ärztekammersprecher Martin Stickler bekräftigt, dass die Zahl der "Systemärzte" in Spitälern und jene der niedergelassenen Mediziner ohne Zweifel stetig abnehme. Die Arbeitsbedingungen seien "völlig unattraktiv" geworden, Ärzte "verschwinden" - wie auch Pichlbauer meint - als Wahlärzte oder ins Ausland. Es gebe zwar ausreichend medizinischen Nachwuchs. 50 Prozent der Absolventen gingen nach dem Studium jedoch ins Ausland oder in andere Berufe. Gegenwärtig seien allein in Deutschland 3000 junge Ärztinnen und Ärzte tätig.

Für Pichlbauer steht Österreich an einem Wendepunkt: Das Gesundheitssystem werde kollabieren, wenn sich nicht schleunigst die Arbeitsbedingungen für die Ärzte und die Strukturen - weniger Spitalsbetten - ändern. Pichlbauer: "Das System muss wahrscheinlich total gegen die Wand fahren, damit sich etwas ändert." (Walter Müller, DER STANDARD, 12.9.2014)