Lew Gudkow: "Putin verfolgt nur ein Ziel, und das ist die Aufrechterhaltung seiner Macht und die Unterdrückung aller, die diese Macht zu degradieren versuchen."

Als Direktor des Meinungsforschungsinstituts Lewada in Moskau weiß Lew Gudkow genauestens Bescheid über die Stimmung und Werthaltungen der Russen. Obwohl die russische Führung das Institut auf die Liste "internationaler Agenten" gesetzt hat, ist sie paradoxerweise auf die Daten, die Lew Gudkow erhebt, angewiesen. Gegenüber derStandard.at erläutert der Soziologe, wie ernst die Sanktionen in Russland genommen werden und warum der Konflikt mit dem ukrainischen Nachbarn eine historische Katastrophe ist.

derStandard.at: Die EU hat die Sanktionen gegen Russland aufgrund der Ukraine-Krise nochmals verschärft. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der engste Kreis Putins, der mit am stärksten von den Sanktionen betroffen ist, sich gegen ihn wendet?

Gudkow: Um ehrlich zu sein, versteht der Großteil der russischen Bevölkerung den Sinn hinter diesen Sanktionen nicht und kann auch nicht abschätzen, wie stark die negativen Auswirkungen sein werden. Bis jetzt glauben alle, dass das nur vorübergehende Maßnahmen sind. Die elitären Kreise hingegen haben mittlerweile verstanden, dass es sich hier doch um juristisch fixierte und ernstzunehmende Maßnahmen handelt und die Auswirkungen, je länger sie andauern, umso schwerwiegender für die Wirtschaft werden.

Sollten diese Sanktionen doch eine längere Zeit andauern, so kann ich mir vorstellen, dass Russland in ungefähr zwei Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise landet. Aber Anzeichen für eine Wendung gegen Putin gibt es zumindest bis jetzt noch nicht.

derStandard.at: Es gibt Stimmen, die behaupten, dass Putin durch sein Vorgehen in der Ukraine versucht, die Nation zu vereinen und hinter sich zu bringen. Sind Sie der Meinung, dass Putin jetzt gerade am Zenit der Umsetzung ist?

Gudkow: Putin verfolgt nur ein Ziel, und das ist die Aufrechterhaltung seiner Macht und die Unterdrückung aller, die diese Macht zu degradieren versuchen. All seine Ideen und Interessen drehen sich nur um dieses eine Ziel.

Der Austritt der Ukraine aus dem eurasischen Konstrukt stellt für Putin ein enormes Problem dar. Deshalb hat auch die Entscheidung Janukowitschs, die Ukraine in die EU zu integrieren, eine panische Reaktion im Kreml ausgelöst. Alle Maßnahmen waren nicht von Anfang an geplant und vor allem nicht vorauszusehen. Es war auch sicherlich keine Expansion, wie im Fall der Krim, geplant. Es geht darum, die Ukraine wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich würde deshalb eher von politischer Improvisation sprechen.

derStandard.at: Auch wenn am Sonntag Zehntausende in Moskau friedlich demonstriert haben, so scheint politische Apathie im Großteil der russischen Gesellschaft sehr verbreitet zu sein. Oder gibt es hier einen Generationsunterschied?

Gudkow: Die ältere Generation kennt noch die Zeit sowjetischer Herrschaft, die sehr viele Widerstandsbewegungen hervorgebracht hat. Die neue Generation ist anders. Sie hat mehr Möglichkeiten, mehr Freiheiten. Junge Leute fahren ins Ausland, genießen eine bessere Bildung und Ausbildung, verdienen mehr. All das ist für sie selbstverständlich. Man muss nicht mehr für diese Art von Freiheit kämpfen, so wie es die ältere Generation zu Sowjetzeiten tun musste.

Die junge Generation ist sehr pro Putin gestimmt, obwohl sie politisch weitaus geringer engagiert ist. Für sie ist Putin eine Figur des individuellen Erfolgs und ein Symbol der Wiederherstellung des nationalen Stolzes - also genau das Gegenteil der von Minderwertigkeitsgefühlen geprägten sowjetischen Generation. Die Frustration, die nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgekommen ist, kennt die neue Generation nicht. Sie sieht viel eher, wie Russland floriert, immer reicher wird und wie sich der Lebensstandard bessert.

derStandard.at: Russland und die Ukraine hat über Jahrzehnte hinweg eine brüderliche Beziehung geprägt. Nun scheint es, dass sich die beiden Länder immer mehr anfeinden. Beruht diese Anfeindung auf realen Tatsachen, oder wurde sie nur durch Propaganda konstruiert, um den Konflikt zu verschärfen?

Gudkow: Vor ungefähr 20 Jahren hat es tatsächlich keinen bemerkenswerten Unterschied zwischen Ukrainern und Russen gegeben - weder in Hinsicht auf Wertorientierungen noch hinsichtlich globaler Ansichten. Es wurde die Meinung vertreten, dass es sich hier um ein und dasselbe Volk handelt, welches einfach durch zwei Staaten getrennt ist. Bis zum Jänner dieses Jahres gab es ein freundschaftliches und positives Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Nicht zuletzt, weil mindestens 28 Prozent der Russen ihre Wurzeln in der Ukraine haben - durch Geburt oder Verwandtschaft.

Die Propaganda hat das Bild des ultranationalistischen und faschistischen Ukrainers geschaffen und somit zu einem komplett neuen Verhältnis der beiden Länder zueinander geführt. Tatsächlich können wir zurzeit sagen, dass es noch nie so negativ war wie jetzt. Das ist wirklich eine historische Katastrophe.

derStandard.at: Hätte die ukrainische Regierung Ihrer Meinung nach von Anfang an andere Maßnahmen setzen müssen, um diese Geschehnisse zu vermeiden?

Gudkow: Die Ukraine war schon vor der Krise in einem gravierend schlechten Zustand - ein von Korruption bestimmter, vom Volk missachteter und jegliches Vertrauen verlorener Staat. Daher ist der Ausbruch der sozialen Unzufriedenheit auch sehr verständlich gewesen. Die Situation war sehr schwer unter Kontrolle zu kriegen.

Was man vielleicht falsch gemacht hat, war der Versuch, durch radikalen Nationalismus gewisse Normen in der Sprachpolitik zu setzen. Man hat die enorme Anzahl russischsprachiger Ukrainer außer Acht gelassen und ihnen das Recht genommen, Gebrauch von dieser Sprache zu machen.

Der zweite Fehler war, dass die Kiewer Regierung den Ostukrainern den Empfang russischer Fernsehkanäle ermöglicht hat. Sie haben nicht versucht, ihr eigenes Programm und damit auch ihre eigene Politik in diesen Regionen durchzusetzen. Die Propaganda, die im russischen Fernsehen übertragen wurde, hat die Menschen im Osten sehr geprägt. Dadurch ist auch der Versuch, den Wunsch nach Demokratie, wie sie im Westen gefordert wird, im Osten zu verinnerlichen, gescheitert.

derStandard.at: Würden Sie sagen, dass die Regierung das Gefühl einer ukrainischen Einheit, einer Nation, schon viel früher hätte stärken müssen und, nachträglich betrachtet, genau an diesem Punkt gescheitert ist?

Gudkow: Man hat sehr danach gestrebt, genau dieses Gefühl zu schaffen. Aber die sozialen Umstände im Osten der Ukraine sind nicht einfach. Das sind sehr depressive und unzufriedene Regionen. Der östliche Teil der Ukraine ist den russischen Provinzen sehr ähnlich.

Ein Beispiel dafür sind die ehemaligen Monostädte, in denen die Reste militärisch-industrieller Komplexe nicht mehr in Betrieb sind und damit ganze Regionen in einer sozialen Katastrophe enden. Dort betreibt auch die Mafia ihre Geschäfte. Das alles steht genau im Gegensatz zum westlichen und zentralen Teil der Ukraine. Die Menschen unter solchen Umständen davon zu überzeugen, dass das Leben auch auf anderen Grundsätzen basieren und funktionieren kann, ist sehr schwierig.

derStandard.at: Das Lewada-Meinungsforschungsinstitut wurde von der Regierung auf die Liste "internationaler Agenten" gesetzt. Beeinflusst das Ihre Arbeit in irgendeiner Art und Weise?

Gudkow: Im letzten Jahr wurde unser Institut insgesamt viermal einer Untersuchung unterzogen - durch die Staatsanwaltschaft, das Ministerium gegen Extremismus, Finanzministerium, Justizministerium und vermutlich auch durch den KGB, der sich als Innenministerium ausgegeben hat. Wir haben dann auch eine Mahnung erhalten, in der uns jegliche politische Aktivität untersagt wurde und wir aufgefordert wurden, auf unsere internationalen Förderungen zu verzichten.

Aber unsere Unabhängigkeit gegenüber dem Kreml ist uns trotzdem geblieben. Natürlich könnte man uns eines Tages zwingen, unsere Tätigkeit einzustellen. Aber derzeit kann uns niemand vorschreiben, welche Fragen wir zu stellen haben. (Teresa Eder, Alexandra Koller, derStandard.at, 22.9.2014)