Die EU ist in den vergangenen Jahren für vieles verantwortlich gemacht worden, vom ausufernden Bürokratismus bis zur - wie sich herausgestellt hat - nicht erlassenen Normierung der Gurkenkrümmung. Nicht alle Menschen waren davon begeistert. Doch nun bietet sich mit der Änderung der Bilanzrichtlinie eine Möglichkeit, die gerade Führungskräfte zu ihrem Vorteil nutzen können.

Denn: Führungskräfte-Bashing ist ähnlich en vogue, wie es abfällige Bemerkungen über Lehrerinnen und Lehrer sind. Von der Belegschaft bis zur Politik sind sich alle einig: Es sind die Führungskräfte, die auf dem Rücken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter horrende Gagen verdienen.

Wenn es so einfach wäre

Dabei wird übersehen, dass die Position einer Führungskraft nicht immer beneidenswert ist: Die wöchentliche Normalarbeitszeit überschreitet locker 50 Stunden, Unternehmensleitung und Shareholder fordern ambitionierte MbO-Ziele, die Verkaufszahlen müssen jedes Quartal steigen, genährt von der Mär vom grenzenlosen Wachstum. Hinzu kommt die Unzufriedenheit der Mitarbeitenden, die an den Anforderungen zu scheitern drohen und für ihre Frustration kein anderes Ventil finden als die innere Kündigung. Wie sollen Führungskräfte angesichts dieser Rahmenbedingungen ihren Vorgesetzten vertrauen, ihre Mitarbeitenden wertschätzen und selbst noch über ihren Job begeistert sein?

Das Europäische Parlament hat Mitte April beschlossen, die Richtlinie über den Jahresabschluss für bestimmte Unternehmen in zwei wesentlichen Aspekten zu ergänzen:

  • Große Unternehmen, die von öffentlichem Interesse sind und mehr als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen, sollen in ihren Lagebericht eine nichtfinanzielle Erklärung aufnehmen, deren Angaben "sich mindestens auf Umwelt-, Sozial-, und Arbeitnehmerbelange, auf die Achtung der Menschenrechte und auf die Bekämpfung von Korruption und Bestechung beziehen" (Art. 19a).
  • Unternehmen, die eine Erklärung zur Unternehmensführung abgeben (Art. 20), müssen "eine Beschreibung der Diversitätsstrategie, die im Zusammenhang mit der Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgane des Unternehmens in Bezug auf Aspekte wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Bildungs- und Berufshintergrund verfolgt wird, die Ziele dieser Diversitätsstrategie sowie der Art und Weise der Umsetzung dieser Strategie und der Ergebnisse" aufnehmen. Verfolgt ein Unternehmen diese Strategien nicht, so muss es dies erläutern.

Die Änderung der Richtlinie wurde vom Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission bereits angenommen. Die Annahme im Rat ist noch im September geplant. Danach, konkret am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, tritt sie in Kraft. Die Mitgliedsstaaten haben dann zwei Jahre Zeit, sie umzusetzen.

Die einen Chefs ...

Ein Teil der Führungskräfte wird darin eine weitere Schikane der EU sehen: Zusätzlich zu den bisherigen Erfordernissen gilt es nun, den Inhalt der nichtfinanziellen Erklärung sowie der Diversitätsstrategie zu berücksichtigen.

Und dann gibt es die anderen Führungskräfte, die nicht nur über wirtschaftliche Kompetenz, sondern auch über soziale Kompetenz verfügen. Diese Führungskräfte wissen, dass die "Humanressourcen" von morgen andere Ansprüche an das Unternehmen stellen als noch vor zehn Jahren: Nur jene Unternehmen werden High Potentials und Talente anziehen und halten können, deren Unternehmenskultur Vielfalt - Diversität - in jeder Ausprägung berücksichtigt. Eine Kultur, die konstruktive Auseinandersetzung, unterschiedliche Meinungen, kreative Inspirationen zulässt und auch aushält.

... und die anderen

Eine Kultur, die anerkennt, dass ein Unternehmen nur durch seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (weiter-)bestehen und erfolgreich sein wird. Eine Kultur, die Respekt und Wertschätzung "dem Anderssein" jedes Einzelnen erweist.

Diese Führungskräfte werden die Anforderungen, die die Änderung der Richtlinie mit sich bringt, zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen: Das heißt, sie können nun ein Diversity-Management aufbauen, dessen Erfolg sich anhand valider Zahlen nachweisen lässt. Dieser Nachweis wird auch zahlenorientierte Finanzvorstände von den Vorteilen überzeugen.

Diversity auf die Kernbereiche (Alter, Geschlecht, ethnischer Hintergrund, Behinderung, Sexualität) einzuschränken greift zu kurz. Ein professionelles Diversity-Management sieht sich als Querschnittsfunktion zu den Bereichen Strategie, Personalentwicklung, rechtliche Verfahren, Arbeitskultur beziehungsweise -umfeld und Führung. Denn die Folgen eines unprofessionellen Managements - wie Fluktuation, Krankenstände, (gerichtliche und behördliche) Verfahrenskosten, mangelnde Inspiration in der Bearbeitung von ausdifferenzierten Märkten und vieles mehr - sind teuer.

Diversity ist aber auch von der Unternehmenskultur abhängig. Und von jeder einzelnen Führungskraft.

Die Änderung der Richtlinie ist daher nicht nur aus der (formalen) Perspektive des Inhalts der Unternehmensbilanz spannend, sondern vor allem aus der Perspektive, ob die postmodernen Führungskräfte diese Chance nutzen werden (können), um ein Diversity-Management aufzubauen, das direkten Einfluss auf die zukünftige (finanzielle) Performance ihres Unternehmens hat. Diese Richtlinie ist eine Möglichkeit, um von den "Getriebenen" zu "Gestaltenden" zu werden. Es liegt (wieder) an den Führungskräften, diese Chance zu nutzen. (DER STANDARD, 20./21.9.2014)