Ein Konvoi aus gut 30 Militärfahrzeugen schleppt sich durch Tamelet. Die Menschen stehen am Straßenrand und staunen über die nicht enden wollende Autoschlange. Manche salutieren, andere lachen spöttisch über die Schneise, die tarnfarbene Lkws mitten am Tag ins Ortszentrum schlagen. Der König kommt! Das soll Eindruck schinden und so bahnt sich die reifenstarke Vorhut den Weg. Und auch wenn nicht das gesamte Volk diese Demonstration so ernst nehmen will: Alles glänzt blitzblank, die Fahnen flattern im Wind, die Straßen sind besenrein. Wenn das Staatsoberhaupt auf Besuch kommt, ist an freie Fahrt nicht zu denken.

Letzte Nebelschwaden lösen sich am Morgen schnell auf. Zwischen Wacholder und Steineichen geht es bergab: Der Tag im Ait Bougmez verspricht für Weitwanderer ein guter zu werden.
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Wandern, das ist die Aufgabe

Weitwanderern ist der Weg das Ziel. Das ist ihre Aufgabe, deshalb sind sie hier. Ins Ait Boulli wollen sie, fünf Autostunden östlich von Marrakesch, mitten im Hohen Atlas. Und von dort nach Ait Boukmes, um den Zauber der Gebirgslandschaften in kompakten fünf Tagen zu erleben. Aber was tun, wenn genau dieser Weg - somit das Ziel - versperrt ist? "Sie müssen umkehren", sagt eine Frau in Uniform in bestem französisch im Gebiet im Tizi N‘Oubadou, rund 20 Kilometer von Tamelet entfernt. Die staubigen Pisten werden gebraucht für eine Rallye, die Straße muss frei bleiben für die Rennfahrer und ihre bunt bedruckten Autos. Sie wollen Spaß, für andere ist kein Platz. Umkehren? Nicht so einfach, schließlich ist da noch die Königsbarriere.

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"Ich bezahle Steuern, damit ich diese Straße befahren darf!", ruft Lahoucine Taha, Guide der bewegungsbereiten Truppe den Blockierern empört zu. Wenn das Ziel im Auge ist, kann selbst der friedlichste Marrokaner grantig werden. Das Argument sticht. Der Weg - das Ziel - kann beginnen.

Um des Gehens Willen

Wer nach Marokko zum Wandern kommt, tut das prinzipiell um des Gehens Willen. Zwischen knorrigen Wacholderbäumen und uralten Steineichen schlängeln sich die Maultierpfade hinauf, und hat man erst einmal einen Pass erreicht, geht es schnell wieder hinunter. Wer mag, kann einen Gipfel mitnehmen, der höchste in dieser Gegend ist der Jebel Mgoun, 4071 Meter hoch. Doch um den Sieg geht es hier kaum jemandem.

Fotomotive gibt es auf der Tour zuhauf.
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Christian Hlade, Chef von Weltweitwandern, schon gar nicht. "Unterwegs sein, Beziehungen aufbauen, das taugt mir", sagt der Trekkingunternehmer. Seit 15 Jahren hat er Marokko im Programm und kooperiert mit Lahoucine, der fließend Deutsch spricht, allerdings mit Akzent: Seine Frau Brigitte ist Schweizerin. Das hört man ihm an. Sie managt von Marrakesch aus die Touren. Lahoucine ist fürs Gehen zuständig, er führt die Ehrgeizigen auf jede Extratour. Wohingegen sein Kollege Ibrahim für die Wissensvermittlung zuständig ist. Ibrahim hat in Marokko englische Literatur studiert. Ein verlässliches Team.

Vom Zauber des Einfachen

Wohldosiertes Abenteuer, danach steht den meisten der Sinn. Dazu gehören Picknick zu Mittag, Abendessen im Gemeinschaftszelt und eine Küchenmannschaft, die Teller mit köstlichem Couscous oder eine Tajine wie aus dem Nichts herbeizaubert. Dazu gehört die Nacht im Zelt, die je nach Jahreszeit und auf Höhen bis zu 2700 Meter auch frostig sein kann, wogegen man sich mit "Bettflaschen" (Schweizerisch für: heißes Wasser in der Alutrinkflasche) behilft, die im Schlafsack bis frühmorgens kuschelig warm halten. Und dazu gehört das berüchtigte "Klozelt", eine Einpersonen-Herzburg ohne Herz, aber mit einem Loch im Boden, wo Räucherstäbchen allzu strenge Gerüche vertreiben. Waschen kann man sich auch, am Morgen steht vor dem Zelt ein Lavour mit warmem Wasser.

Das Zeltlager der Weitwanderer
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Vom Zauber des Einfachen hat auch Itto gekostet, und ist nicht mehr davon losgekommen. Itto Stefanie Mouzoun-Tapal hat einen langen Weg hinter sich, aber seit 2004 ist sie angekommen. Von Süddeutschland reiste die studierte Innenarchiektin nach Marokko, verliebte sich - in Haddu und den Islam. Haddu brachte sie ins Ait-Bougmez-Tal, und als sie am Morgen das Fenster öffnete und die würzige Luft einatmete, wusste sie: "Ich möchte hier leben."

Werden, was man ist

Von den Berbern wurde sie offen aufgenommen. Mit den Eltern daheim war es hingegen schwierig, erzählt sie: "Das Gebet hat mir Halt gegeben." Itto leitet die Ecole vivante, ein Schulprojekt mitten im Ait Bougmez. Rund 32 Kinder lernen hier unglaublich behütet und sanft geführt. Ittos Lebensziel vermittelt sie auch den Kindern: "Zu werden, was man im Grunde seines Wesens ist."

Zwischen knorrigen Wacholderbäumen und uralten Steineichen schlängeln sich die Maultierpfade hinauf.
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Es mag ein Treppenwitz der jüngeren Geschichte sein, dass zumindest in Marrakesch der Muezzin mit mehr Inbrunst als noch vor wenigen Jahren die Suren des Korans rezitiert, sich mehr Frauen als früher verschleiern und dies als Akt der selbstbestimmten Abgrenzung zum Westen sehen.

Knochenjob auf Terrassen

Ait Bougmez heißt "glückliches Tal". Die Wandernden kommen von oben herunter, machen Halt in diesem malerischen Ort mit schlammfarbenen Häusern aus Lehm, üppig grünen Nussbäumen und Gräsern. Auf Terrassen wird Getreide geerntet, was ein Knochenjob sein muss. Ebenso wie jener der Frauen, die an den Flüssen noch Wäsche waschen. Immerhin gibt es seit kurzem Strom. Fotografiewütigen Besuchern mögen die Masten ein Dorn im Auge sein. Kinder, die nach "Stylo" fragen, bringen auch den verträumtesten Wanderer zurück auf den Boden der Realität: Abseits von Königspfaden ist Marokko ein armes Land. 40 Prozent des Bruttoeinkommens stammen aus dem Tourismus, 60 Prozent aus der Landwirtschaft.

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Mitten im Tal ragt der Sidi Moussa in die Höhe, ein heiliger Berg, einst Pilgerziel der Berber. Oben steht die Speicherburg, gleichzeitig das Grab eines "Volksheiligen", ein Marabout. Darin haust ein schweigsamer, alter Mann, der Tee reicht und sich ins rechte Fotolicht platziert. Da klicken die Kameras, dem ist es Recht, er lebt vom Kleingeld motivhungriger Besucher. Einmal pro Woche kamen früher die Berber des Dorfes Timit hierher, erzählt Lahoucine. Freitags, weil es dann Fleisch gab. Hunderte campierten und feierten. Das ist vorbei: "Viele sagen, es ist nicht gut, weil es gegen die Islamregeln ist", sagt Lahoucine: "Schade."

Das Ziel ist der Weg

Vorbereitung auf den letzten, großen Aufstieg von Zauillat nach Izoughar, einem ausgetrockneten See auf 2.700 Meter Höhe, vorbei an Zelten von Halbnomaden. Die letzte Nacht im eigenen Zelt wird wieder so richtig frostig, die Bettflasche innig umarmt.

Morgen Früh trennen sich die Wege, die Wandernden sind am Ziel, Busse warten und bringen sie zurück nach Marrakesch, wo sie noch einmal dem lauten Rausch des Orients erliegen werden. Ibrahim hat sich schon verabschiedet, er holt schon die nächste Truppe ab. In 22 Tagen geht es durch den gesamten Atlas. Das Ziel ist der Weg. Der hört bekanntlich nie auf. (Doris Priesching, DER STANDARD, 19.9.2014)