Mircea Cartarescu: "Ich versuche, meine innere Stimme zu hören und meine innere Welt zu kartografieren."

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DER STANDARD: Herr Cartarescu, wenn Sie auf das Sonnensystem Ihres Schaffens, wie Sie "Orbitor" einmal nannten, zurückblicken, welches Empfinden weckt es in Ihnen?

Mircea Cartarescu: Nostalgie, auch Traurigkeit. Die 14 Jahre, die ich damit verbrachte, Orbitor zu schreiben, waren vielleicht die großartigste Zeit meines Lebens. Ich hatte das Gefühl, über alles schreiben zu können und an nichts zu scheitern. Ich schrieb Orbitor nicht als Roman, sondern als geflügeltes Gedicht, das zugleich ein Abbild meiner Welt ist. Jeder Schriftsteller, der an einem Punkt seiner Karriere in die Lage kommt, ein totales Buch zu schreiben wie meine Trilogie, sollte während des Schreibens unermesslich glücklich sein. Aber nachdem er es beendet hat, wird er sich leer und traurig fühlen.

Als das Werk in Rumänien erschien, wollten Sie nicht darüber sprechen, da Sie es selbst nicht verstünden. Haben Sie jetzt einen Zugang gefunden?

Cartarescu: Es wäre seltsam für mich, mein Buch wirklich zu verstehen. Das würde bedeuten, dass es keine Notwendigkeit gab, es zu schreiben. Ich schreibe nicht, um mir das zu sagen, was ich weiß, sondern um Neues zu erfahren. Ich kann in Orbitor lesen, wie man im Kaffeesatz liest.

Am Ende der Trilogie ist Rumänien befreit von der Diktatur. Bedeutete das Schreiben dieses Mammutwerks auch für Sie eine Katharsis?

Cartarescu: Die Trilogie besitzt zwei Enden. Das erste ist ein historisches: Rumänien wird durch einen Schwindel, eine postmoderne Revolution die Diktatur los. Aber das wirkliche Ende ist ein metaphysisches: Der menschliche Verstand befreit sich von der materiellen Welt und geht über in den reinen Geist. Am Ende des dritten Bandes finden zwei Apokalypsen zugleich statt: Das kommunistische Rumänien und die ganze Welt werden zerstört. Das Einzige, was bleibt, ist das Buch, das die Welt ersetzt. So ist Orbitor ein Ausbruch von Mitleid und Angst um das Schicksal der Menschheit.

Sie betonen, das Werk ohne Plan geschrieben zu haben, nur mit Vorgabe des Titels und des Umfangs. Das lässt an die Écriture automatique der Surrealisten denken ...

Cartarescu: Ja, ich schrieb Orbitor mit der Hand in drei große Notizbücher ohne ein Editionskonzept. Das Manuskript existiert noch: Es ist vollkommen rein. Keine Seite ist herausgerissen, und es gibt weder Einfügungen, noch ist etwas durchgestrichen. Ich ließ meinen Geist, der weiser ist als ich, seine Geschichten erzählen, ohne mich einzumischen. Das bedeutet nicht, dass Orbitor keine Struktur hätte. Aber wie bei einem Termitenbau gab es keinen Architekten. Der Termitenbau ist kein Gebäude, sondern ein Organ des Insekts, eine Verlängerung seines Körpers. Genauso ist Orbitor ein Organ meines Geistes, das nach seinen Regeln und Bedürfnissen gebaut ist.

Der dritte Teil bietet mehrere Lesarten an. Gelesen als fantastischer Roman, lässt er das Leben unter der Herrschaft Ceausescus immer wieder ins Skurrile, Absurde und Irreale durchbrechen. Weisen diese Ausbrüche den Weg, diese Diktatur zu begreifen?

Cartarescu: Jede Diktatur hat etwas Unwirkliches, weil sie die natürlichen Gesetze eines freien Seins und freier Menschen durch eine künstliche, ideologische Lebensweise ersetzt. Ideologen sind Blinde, die Blinde führen. Sie leben nicht in der realen Welt, sondern in einer imaginären Welt. Darum fügen sie den Menschen, die sie regieren, enormen Schmerz zu. Aber mag auch ihre Welt fantastisch sein, der Schmerz ist real.

Als Ceausescu 1971 nach einer China- und Nordkorea-Reise in Rumänien eine Kulturrevolution durchführen wollte, der Sie sich in Ihrem Roman ausgiebig widmen, waren Sie immerhin schon 15. Hatten Sie Angst?

Cartarescu: In diesem Alter war ich unwissend. Ich ging zur Schule und begann, Gedichte zu schreiben. Politik interessierte mich nicht. Ich kannte auch keine anderen Erfahrungen. So wie die Wirklichkeit sich zeigte, musste ich mit ihr zurechtkommen. Was eine kulturelle Revolution war, wusste ich nicht. Meine Eltern waren einfache Arbeiter. Sie fühlten sich selbst als kleine Leute, die kein Wort zu sagen hatten. Ihr einziger Wunsch war es zu überleben. Mich warnten sie davor, über Politik zu diskutieren, weil das gefährlich war. Sie lebten in Angst. Diese übertrug sich auf mich. Erst in den 80er-Jahren begann ich, den Persönlichkeitskult, den Ceausescu in jenen Jahren entwickelte, zu verstehen.

Welchen Einfluss hatte Michael Eminescu, den Sie den Urvater aller rumänischen fantastischen Literatur nennen, auf Sie?

Cartarescu: Eminescu war der größte Dichter der rumänischen Sprache, aber ein unglücklicher Genius. Ich betrachte mich als Nachfolger seines visionären Werks. Über meine barocken, surrealistischen und postmodernistischen Techniken hinaus bin ich in der Tat ein neoromantischer Autor. Ich versuche, meine innere Stimme zu hören und meine innere Welt zu kartografieren. Mein Vorbild für den dritten Teil von Orbitor, in dem es um die Monstrosität der Geschichte geht, war Jonathan Swift. Der Roman ist eine Satire, ein harsches Pamphlet gegen die, die meine Jugend gestohlen haben. Von Eugène Ionesco borgte ich das Gefühl der Absurdität im politischen Leben.

Gelesen als historischer Roman, beschreibt der dritte Teil von "Orbitor" die rumänische Revolution von 1989. Was bedeutete dieses Ende der Diktatur für Sie?

Cartarescu: Ich war 33, als die Diktatur in Rumänien stürzte. Bis dahin war ich nie im Ausland. Ich unterrichtete an einer Schule, wie alle meine Landsleute lebte ich ohne Hoffnung. Weder konnte ich ein Doktorat bekommen, noch an einer Hochschule lehren. Ich war überzeugt, dass ich mein Leben in dem großen Gefängnis verbringen würde, das mein Land war. 1989 war ein Wunder, auch wenn die Revolution manipuliert war und die Menschen belogen wurden. Es folgte eine lange Periode des "Übergangs", die Enttäuschung und Korruption bedeutete. Dieselben, die uns zuvor regiert hatten, die Securitate- und Partei-Leute, wurden die neuen Herrscher, frisch gewendet in Demokraten.

Der rumänische Schriftsteller Paul Goma, der 1977 aus den Gefängnissen der Securitate nach Frankreich ausreisen durfte, zeigte sich enttäuscht über die Hinrichtung Ceausescus. Er hätte sich einen Prozess gewünscht. Haben Sie das auch so empfunden?

Cartarescu: Ja. Eine vorgetäuschte Revolution gipfelte in einem vorgetäuschten Prozess. Er wurde von den neuen Herrschern geleitet, "Kommunisten mit menschlichem Antlitz", die die Fortdauer des Regimes in Verkleidung wollten. Alles war noch widerwärtiger. Das Töten fand am Weihnachtstag statt. Ceausescu wurde da so sehr gehasst, dass die Menschen diese Hinrichtung als ein natürliches Ende für ihn und seine Frau akzeptierten. Erst als sie entdeckten, dass alles Manipulation war, besannen sie sich.

Sind die Erfahrungen der Diktatur immer noch das beherrschende Thema der rumänischen Schriftsteller?

Cartarescu: Nein, die kommunistische Periode ist kein Thema mehr. Die älteren Schriftsteller haben sie weitgehend vergessen und die jüngeren haben sie nicht bewusst erlebt. Sie schreiben eher über das tägliche Leben im heutigen Rumänien, meist in einem minimalistischen Stil. Ich bilde da eine ziemliche Ausnahme. Aber ich war auch traumatisiert von dieser Diktatur. Ich musste mich davon befreien und Rache nehmen.

Woran schreiben Sie gegenwärtig?

Cartarescu: Ich arbeite an einem großen, komplizierten Buch. Mit ein bisschen Glück könnte es eines meiner wichtigsten Bücher werden.

In Ihrer Promotionsschrift haben Sie sich mit der rumänischen Postmoderne auseinandergesetzt und sich als deren Vertreter bezeichnet. Wo sehen Sie sich heute?

Cartarescu: Das überlasse ich der Kritik. Selbst betrachte ich mich nicht einmal als Schriftsteller, sondern als Sucher der Wahrheit. Ich gehöre zu jenen Wissenschaftern, Dichtern, Gläubigen und Philosophen, die Antworten auf die einfachen Fragen suchen: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Was ist die Wirklichkeit? Kafka sagte, er schreibe, um seine Situation zu verstehen. Genauso geht es mir. (Ruth Renée Reif, Album, DER STANDARD, 20./21.9.2014)