Sascha Lobo: "Seit 2006 habe ich vielleicht zwei oder drei Todesdrohungen erhalten."

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STANDARD: In Österreich geriert sich eine Gruppe als "meinungsmutig" und fordert statt Pseudonymen eine Klarnamenpflicht in Foren. Sind Sie auch dafür?

Lobo: Nein, ganz klar nicht. Ich bin strikt für den Erhalt der Anonymität im Internet. Ich glaube auch, dass diese Gruppe der "Meinungsmutigen" am tatsächlichen Problem vorbeioperiert, weil sie von falschen Annahmen ausgeht. Beginnen möchte ich mit der Feststellung: Ja, wir haben ein Problem mit Online-Diskussionen. Im schlimmsten Fall gibt es eine nach unten offene Hetz- und Schmähkampagne, die tatsächlich verletzend bis gefährlich sein kann. Was in Österreich leider häufig reproduziert wird, ist der Glaube, dass alles besser würde, wenn man bloß Klarnamen hätte. Das ist falsch. Es zeigt sich regelmäßig, dass Leute unter Klarnamen Diskussionen führen, bei denen man Zitterkrämpfe bekommt. Die Debatte ist also eine Scheindebatte.

STANDARD: Wo toben sich Leute unter richtigem Namen aus? Auf Facebook?

Lobo: Ich habe ein simples Beispiel: ein Screenshot aus dem Jahr 2011 von einer Facebook-Gruppe mit über 10.000 Personen, die meisten davon aus Österreich, die die Wiedereröffnung eines KZs gefordert haben. Die große Mehrheit jener Leute war mit Klarnamen unterwegs. In dem Moment ist für mich die Debatte beendet, ob Klarnamen zu einer Zivilisierung der Diskussion beitragen können. Man hätte gerne eine einfache Lösung. Abgesehen davon, dass es technisch überhaupt nicht einfach ist. Es handelt sich um einen digitalen Zivilisierungsprozess. Und der dauert.

STANDARD: Haben Sie ein Rezept parat?

Lobo: Unterstützen und beschleunigen kann man diesen Prozess mit Technologien. Es ist ja nicht gesagt, dass man nicht auf einzelnen Plattformen Postings löschen darf, Worte verbieten soll und Benutzer einfach verbannen kann. Das sind legitime Instrumente, um Diskussionen zu steuern. Im englischen Sprachraum gibt es Portale, die über technische Features die Kommentarqualität hochhalten möchten. Sei es mit der Bewertung und dem Hochpuschen einzelner Kommentare oder damit, dass man die Diskussion vom Kommentarfriedhof unter den Artikeln links auf die Seite verlagert. Also eine Belohnungsstruktur für gute und Sanktionen für schlechte Kommentare. Im deutschen Sprachraum ist das noch unterentwickelt. Ich wünsche mir mehr Mut und Intelligenz.

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STANDARD: Als positives Beispiel in Deutschland wird oft zeit.de mit den moderierten Foren genannt. Zu wenig nach Ihrem Geschmack?

Lobo: Was dort passiert, ist erst der Anfang vom Anfang. Nämlich die Pflicht, ich vermisse die Kür. Ein Kommentar ist immer noch ein Kommentar. Eine intelligente Lösung mittels einer Software und Crowdbewertung erkenne ich noch nicht.

STANDARD: Was halten Sie vom Vorstoß von sueddeutsche.de, wo nur mehr Debatten bei wenigen, ausgewählten Artikeln möglich sind?

Lobo: Ich finde, dieser Weg ist Fortschritt und Rückschritt zugleich. Auf der einen Seite kann die Konzentration der Debatte auf wenige Punkte zu einer besseren Diskussionskultur führen, auf der anderen Seite ist es ein Rückschritt, weil es Elemente einer Kapitulation enthält. Konzentration ist sicher kein Fehler, aber zwei, drei Themen am Tag erscheinen mir sehr wenig. Das ist nicht die nächste, intelligente Stufe von Onlinedebatten, sondern ein Rückzugsgefecht.

STANDARD: Als "Spiegel Online"-Kolumnist sind Sie in einer exponierten Position. Lesen Sie die vielen Kommentare unter Ihren Artikeln?

Lobo: Ich habe jetzt rund 200 Kolumnen geschrieben und kann sagen, dass ich sämtliche Kommentare dazu gelesen habe. Die Leser bei "Spiegel Online" scheinen sich an mich gewöhnt zu haben. In scheinbar anarchischen Strukturfeldern wie Kommentarfeldern existieren viel stärkere soziale Verbindungen, als man für möglich hält. Darauf kann man versuchen zu setzen. Ich persönlich werde vergleichsweise oft attackiert, weil ich eine kontroverse Figur in der Öffentlichkeit bin. Das hat aber in den letzten Jahren dramatisch abgenommen. Das meiste war aber Kindergarten im Vergleich zu dem, was heute oft läuft mit einem unfassbar aggressiven digitalen Mob. So extrem war das bei mir nie. Seit 2006 habe ich vielleicht zwei oder drei Todesdrohungen erhalten.

STANDARD: Überwiegen für Sie die positiven Aspekte und konstruktiven Reaktionen?

Lobo: Für mich persönlich ja. Ich habe gelernt, dass ich die relevanten drei bis fünf Prozent selbst rausfiltern muss. Auf die reagiere ich und baue sie zum Teil in meinen Diskurs ein. Nur ein sehr kleiner Teil agiert aggressiv oder schmähend. Ich kann damit sehr gut umgehen und meinen Diskurshonig rausziehen.

STANDARD: Hat sich Ihre Einstellung zu Anonymität seit den Veröffentlichungen von Edward Snowden geändert?

Lobo: Ich war schon vorher der Meinung, dass Anonymität im Internet ein wichtiges Grundrecht ist, von dem werde ich nicht ablassen. Das ist für mich essenziell, und ich bin der Überzeugung, dass es ein Grundrecht gibt, nicht überwacht zu werden. Alles andere ist eine Überwachungs- und Kontrollgesellschaft. Diese Generallösung haben wir bereits. Sie heißt NSA, und ich bekämpfe sie jeden Tag.

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Edward Snowden.
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STANDARD: Ihre Hoffnungen im Kampf gegen die totale Überwachung ruhen auf der Zivilgesellschaft. Wie sieht es mit der Politik aus?

Lobo: Politiker sind ja Teil des Problems. Sie sehen Überwachung als etwas Positives und treiben es weiter voran. Der Urimpuls muss von der Zivilgesellschaft ausgehen. Ab einem gewissen Zeitpunkt muss dann die Politik miteinbezogen werden, das ist mir klar. Was ich fordere, ist ein Primat der Politik vor der Technologie. Die Überwacher - von der NSA bis zum österreichischen Geheimdienst - versuchen zu machen, was möglich ist. Das ist der Primat der Technologie vor der Verfassung, vor den Grundrechten. Die Politik ist Mittel zum Zweck eines gesellschaftlichen, demokratischen Herrschaftssystems. Die Zivilgesellschaft muss ihre Forderungen formulieren.

STANDARD: Sie wünschen sich eine breite Front, die der Politik die Bedingungen diktiert?

Lobo: Nicht unbedingt diktiert. Die Politik ist ja, wie man am Beispiel Österreich sieht, gar nicht so leicht unter Druck zu setzen, wenn man sich ansieht, womit man alles durchkommt, ohne zurücktreten zu müssen. Zum Zweiten ist die Politik darauf spezialisiert, so zu tun, als würde sie auf Druck reagieren, und dann gar nichts zu verändern. Das wird nicht in einer Deklaration münden, die man der Politik überreicht. Es handelt sich um einen sehr langen Prozess. Den müssen wir Schritt für Schritt voranbringen, und ich fürchte, diese Aufgabe wird nie enden.

STANDARD: Wie sollten deutsche Politiker gegen die NSA-Überwachung auftreten, um das System zu stoppen?

Lobo: Stoppen ist ein sehr großes Wort. Es lässt sich vielleicht einschränken, auch wenn das bereits schwierig ist. Es muss über die europäische Ebene gehen. Länder müssen sich zusammenschließen, um Druck auszuüben. Das ist anstrengend, und es gibt keine Garantie, dass es funktioniert. Ich glaube aber, dass es die einzige Möglichkeit ist, die wir haben. Bundeskanzlerin Merkel ist nicht die richtige Person dafür. Sie ist wenig empfänglich, außer sie wird selbst überwacht.

STANDARD: Hoffen Sie auf Initiativen aus den USA?

Lobo: Tendenziell nicht, wenngleich es auch dort Kräfte gibt, die gegen die Überwachung opponieren. In den USA ist die Zivilgesellschaft sehr viel stärker und lauter als etwa in Deutschland oder Österreich. Aber deren Bemühungen beziehen sich in erster Linie auf das eigene Land und nicht unbedingt auf den Rest der Welt. Ich fürchte, dass an einem gezielten europäischen Vorgehen zur Erhöhung des Drucks kein Weg vorbeiführt.

STANDARD: Ihre Prognose: Wie wird das Internet in drei Jahren aussehen?

Lobo: Ich fürchte, wir werden nicht so viel weiter sein, außer dass es dann Angebote gibt, die die Überwachung erschweren. Verschlüsselungstechniken für Mails sind heute meiner Auffassung nach für normale Internetnutzer viel zu kompliziert. Hier wird es einfachere Möglichkeiten geben.

STANDARD: Sie verwenden seit Snowden Verschlüsselungstechniken. In der breiten Masse sind die aber noch nicht angekommen.

Lobo: Nein, überhaupt nicht, und das liegt hauptsächlich an der Komplexität. Wenn sogar ich, der viel im Netz ist, mit meinem normalen Setting eine Stunde brauche, um einen einigermaßen geschmeidigen Prozess für Mailverschlüsselungen aufzusetzen, und noch einmal eine Stunde, um mobile Endgeräte zu umfassen, dann ist das noch zu kompliziert. Ich bin aber zuversichtlich, dass eine Menge passieren wird. (Oliver Mark, DER STANDARD, 20./21.9.2014, Langfassung)