So erträumt sich Adolf Wölfli seine "Skt.-Adolf-Riesen-Schöpfung": die Buntstiftzeichnung "Skt.Adolf=Graab=Quellen=Schloss" (1918).

Foto: Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bern

Maria Gugging - Seinem Gegenüber in die Gehirnwindungen schauen können, das wollten die Menschen wohl schon immer. Gedankenlesen: in etwa so wünschenswert wie Fliegenkönnen.

Die Zeichnungen des Schweizers Adolf Wölfli (1864-1930), die in "Adolf Wölfli. Universum.!" im Museum Gugging zu sehen sind, wirken tatsächlich, als würde man in ein fremdes Gehirn schauen. Hier, wo sich bis 2007 eine Nervenklinik (mit unrühmlicher NS-Geschichte) befand, erzählt nun einer seinen Lebensweg - der in ähnlicher Weise von unrühmlichen Taten zur Kunst führt.

Ein imaginäres Leben

Wölfli wuchs unter schlimmsten Bedingungen auf, führte früh ein entwürdigendes Dasein als "Verdingbub". Wegen "versuchter Notzucht" an zwei Kindern landete er im Zuchthaus, nach erneuten Versuchen in der Irrenanstalt Waldau bei Bern. Hier begann sein zweites, imaginäres Leben, das in rund 50 Arbeiten in Gugging zu besichtigen ist.

Die Arbeiten teilen sich in fünf Gruppen: In "Von der Wiege bis zum Graab" erzählt Wölfli seine imaginierte Lebensgeschichte, in der sein Alter Ego, das Kind "Doufi", durch die Welt reist. "Geographische und Allgebräische Hefte" beschreibt die Gründung seines Weltreiches "Skt.Adolf-Riesen-Schöpfung". Es folgen die "Hefte mit Liedern und Tänzen", "Allbumm-Hefte mit Tänzen und Märschen" und schließlich der "Trauer-Marsch". Aus allen diesen Werkgruppen sind, ergänzt durch Blätter aus dem Frühwerk und solche der "Brotkunst", die er gegen Zeichenmaterial oder Zigaretten eintauschte, Arbeiten zu sehen. Was sie verbindet, ist die Formensprache Wölflis, die sich über die Jahre nur wenig veränderte. Es ist diese ornamentale Ordnung, die an Gehirnwindungen erinnert, in deren Zwischenräumen sich die Geschichten seines imaginären Lebens abspielen.

Immer wieder kehren Formen wie jene des "Vögelis" wieder: ein stilisierter Vogel, der auf das "Vögeln" verweist - ein immer präsentes Begehren. Was der Künstler begehrt, ist all das, was ihm in der Anstalt verwehrt bleibt: Anerkennung, Normalität, Liebe, Sex, Erfolg. In seiner "Skt.Adolf-Riesen-Schöpfung" ist darum naturgemäß alles megaloman. Die Figuren haben Kreuze auf den Köpfen, scheint doch das Heilige für Wölfli mit das Höchste. Daneben will er die ganze Welt in seiner Schöpfung modernisieren, urbanisieren, berechnen, besitzen und am Ende: unterwerfen. Er will in seinen Zeichnungen die Welt in Ordnung und unter Kontrolle bringen - und das auf jede Art und Weise.

Die Werbung als Leben

Was wir durch Wölflis Augen sehen, ist ein völlig ungeschöntes, nahezu unvermitteltes Bild der menschlichen Weltbeherrschungsträume, wie sie wohl Anfang des 20. Jahrhunderts noch existierten. Ein durch nichts erschütterter Fortschrittsglaube.

In den letzten Werkgruppen werden die gezeichneten Illustrationen weniger, Wölfli arbeitet nun mehr mit Collagen und Ausschnitten aus Illustrierten. Sie sind sein Tor zur Welt; und wie ein Kind, das nur zusehen darf, scheint er sich zu erträumen, Teil dieser "Erwachsenenwelt" zu sein. Hier zeigt sich auch das damalige Geschlechterverhältnis in seiner vollen Härte: die Männer als Macker und Brötchenverdiener, die Frauen als hübsch ondulierte Schokoladen-Konsumentinnen. Was die Werbung behauptet, nimmt Wölfli als bares Leben - und sehnt sich danach.

Die Ausstellung bietet, ergänzt durch den Film Der Künstler Adolf Wölfli (1976), auch für Besucher, denen Wölflis Werk neu ist, einen umfassenden Einblick - ohne dabei überfrachtet zu sein. Die Werke wirken für sich selbst, erschlagen einander nicht. Am Ende spricht Wölfli ohnehin für sich allein. Und so fremd, so kryptisch sein Denken und Arbeiten in vielerlei Hinsicht sein mag, so meint man doch, ihn zu verstehen. Ein Beweis für das Allgemeinmenschliche vielleicht, das irgendwo in unseren Gehirnwindungen steckt. (Andrea Heinz, DER STANDARD, 22.9.2014)