Verlockend: Gelbe Anhängsel der Staubblätter von A. confusa.

Foto: Dellinger

Die Fortschritte auf dem Gebiet der Mikrobiologie und Genetik verleiten stellenweise zu dem Eindruck, dass alles, was es mit freiem Auge über Lebewesen zu erfahren gibt, bereits bekannt sei, oder es zumindest keine echten Überraschungen mehr gebe. Stimmt nicht – wie eine Wiener Botanikerin kürzlich an einer tropischen Pflanze zeigen konnte.

Axinaea confusa ist ein – für Regenwaldverhältnisse – kleiner Baum von maximal 15 Metern Höhe, der an den Abhängen der Anden gedeiht und auffällig blüht: Die rosa Blütenblätter bilden eine Glocke, aus der die lange Narbe – das weibliche Geschlechtsteil von Pflanzen – herausragt. An deren Basis sitzen als Männerfraktion zehn dunkle Staubfäden, die jeweils ein fettes gelbes Anhängsel tragen. Solche augenfälligen Strukturen dienen gewöhnlich der Anlockung von Bestäubern – im Fall von Axinaea confusa war jedoch unklar, wer damit zum Besuch motiviert werden sollte. "Wir vermuteten Käfer", verrät Agnes Dellinger vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Uni Wien, die die Pflanze drei Monate lang in Ecuador untersuchte.

Mit Hilfe von Videoaufzeichnungen gelang es ihr, die wahren Bestäuber von Axinaea confusa zu ermitteln, nämlich Vögel, genauer gesagt vier Arten von Tangaren. Das an sich selbst war schon überraschend – bei genauerem Hinsehen wurde das Verhältnis zwischen der Pflanze und ihren geflügelten Besuchern dann einzigartig: Die Vögel pflücken nämlich nicht nur die Anhängsel heraus, sie fressen dabei auch das dazugehörige Staubblatt. Da es sich dabei um die männlichen Fortpflanzungsorgane handelt, sollte dieses Verhalten seitens der Pflanzen eigentlich rasch aussterben. Tatsächlich gab es bis zu Dellingers Entdeckung kein einziges anderes Beispiel einer Art, die eine solche Strategie verfolgt.

Nun ist Axinaea confusa zwar durch Abholzungen bedroht, nicht aber durch die Tangaren. Wie Dellinger weiter herausfand, stellen die Anhängsel eine Art Blasbalg dar: Ihr Gewebe ist sehr locker und enthält fast 40 Prozent Luft. Diese wird explosionsartig ausgestoßen, wenn ein Vogel die Anhängsel mit dem Schnabel zusammendrückt, um sie herauszuzupfen. Der Luftstrom fährt in das hohle Staubblatt und sorgt dafür, dass daraus gleichzeitig eine Pollenwolke ausgestoßen wird. Diese verteilt sich auf Schnabel und Kopf des Vogels, der beim weiteren Fressen oder späteren Besuchen die Narbe berührt und so für die Befruchtung sorgt.

Gern gesehenes Vogelfutter

Außer Pollenschleudern sind die Anhängsel auch echte Futterkörper: Immerhin enthalten sie jede Menge Hexose und stellen damit für die Vögel eine beträchtliche Energiequelle dar. "Es kann sein, dass die Pflanzen mit diesen Anhängseln Früchte imitieren", mutmaßt Dellinger.

Die meisten anderen Angehörigen der Familie der Melastomataceae, zu denen Axinaea gehört, werden durch Bienen bestäubt: Die Insekten halten sich dabei an den Staubblättern fest, versetzen ihre Muskulatur in Schwingung und vibrieren auf die Art den Pollen heraus. "Vögel sind die Ausnahme bei den Melastomataceae", wie Dellingers Betreuer Jürg Schönenberger betont, "und normalerweise bieten Pflanzen, die von Vögeln bestäubt werden, als Belohnung Nektar, wie man das etwa von Kolibris kennt."

Die Wiener Botaniker vermuten, dass Axinaea im Laufe ihrer Entwicklung einen Bestäuber-wechsel vollzogen hat: Als sich die Anden auffalteten, könnten ursprüngliche Tieflandpflanzen in größere Höhen gekommen sein, wo starke Winde und häufige Regenfälle das Wetter dominieren. Möglicherweise sattelten Axinaea confusa und einige ihrer Verwandten damals von den Bienen auf die robusteren Vögel um. (Susanne Strnadl, DER STANDARD, 1.10.2014)