Es dämmert schon als die M/S Trollfjord, eines der größeren Schiffe der norwegischen Reederei Hurtigruten, im Hafen von Kjöllefjord östlich des Nordkaps festmacht. Eine Handvoll Passagiere besteigt den wartenden Bus, der alsbald über eine holprige Straße ins abendliche Zwielicht der herbstlichen Eismeerküste aufbricht.

Unterwegs prägt Buschauffeur Jooseppi den Fahrgästen jene samischen Worte ein, mit denen sie ihre Gastgeber begrüßen können: "Buorre eahket" - "Guten Abend", schallt es dann unisono Davvi entgegen, der mit einem "Vierwindhut" auf dem Kopf, der traditionellen vierzipfeligen Mütze der Samen, vor seinem Holzhaus wartet.

Kohta-Zelte benutzen die meisten Samen Norwegens heute nur mehr temporär während des Umzugs der Rentiere ins Winterquartier. Die typische Kegelform kommt aber noch häufig beim Bau von Holzhäusern in den permanenten Siedlungen zur Anwendung.
Foto: Terje Rakke/Nordic Life - Visitnorway.com

Das Holzhaus habe er selber gebaut, beginnt Davvi, eine Art Regionalbotschafter für die samische Kultur, das Gespräch. Es sei den großen Kohtas nachempfunden, den hohen, spitzen Wohnzelten, in denen die Samen Norwegens heute nur mehr übernachten, wenn sie mit ihren Rentierherden unterwegs sind. "Aber fragt einen Sami niemals nach der Größe seiner Rentierherde", mahnt Davvi. Das wäre in Samiland, wie Lappland korrekt bezeichnet werden sollte, mindestens so unhöflich, wie anderswo den Kontostand des Gesprächspartners abzufragen.

Samiland ist ein ziemlich ungewöhnliches Konstrukt, das als solches auf keiner Karte eingezeichnet ist und keine festen Grenzen hat. Im norwegischen Karasjok weht vor dem Parlament der Samen zwar die offizielle Sami-Flagge, auf der Sonne und Mond gemeinsam scheinen, doch die Befugnisse der Vertreter der indigenen Bevölkerung sind im wesentlichen auf die regionale Selbstverwaltung beschränkt.

Umzug in Winterquartier

Der Herbst in Samiland ist aber ohnehin die falsche Zeit, um sich über Politik Gedanken zu machen. Überraschend viele Familien sind in diesen Wochen damit beschäftigt, die Rentierherden in ihr Witnerquartier zu bringen. Den Sommer haben die Tiere auf den Eismeerinseln verbracht, während der nächsten Monate werden sie in der Nähe der Siedlungen bleiben. "Hier fällt es ihnen leichter, ihr bevorzugtes Futter, die Rentierflechte, unter der Schneedecke zu finden", sagt Davvi.

Frag einen Samen nie nach der Größe seiner Rentierherde, das ist so unhöflich, wie anderswo den Kontostand des Gesprächspartners abzufragen.
Foto: visitfinland.com / Antti Saraja / www.leuku.fi

Diese Strauchflechte benötigt rund fünf Jahre, um nachzuwachsen, und damit die Tiere gut genährt sind, müssen sie täglich bis zu zwei Kilogramm der Flechte fressen. Auch aufgrund des Klimawandels sei nun immer öfter das Zufüttern nötig. Denn so paradox es klingen mag: Höhere Temperaturen führen im Wechsel zwischen Frost und Tauwetter dazu, dass der Tundraboden mit einer für Rentierschnauzen undurchdringbaren Eisschicht überzogen ist. Das erkläre auch, warum die Samen mit ihren Herden oft weiter herumziehen müssten als früher.

Auf dem Weg in die oft mehr als 120 Kilometer entfernten Winterquartiere sammeln die Samen Schätze, deren Wert manchmal nur sie schätzen. Davvi verteilt kleine Kostproben einer Weidenrinde, die nur bei einer bestimmten Mondkonstellation abgezogen werden dürfe, damit sie durch intensives Kauen ihre angebliche Heilkraft entfalten könne. Aus den kleinen schwarzen Krähenbeeren stellt man hier einen hochprozentigen Schnaps her, der zumindest kurzfristig wärmt.

Verbotener Zauber

Während einige ein Stamperl davon kosten, demonstriert Davvi Gebrauch einer Zaubertrommel, die die Schamanen des Nordens zu den Samen brachten. Als heidnisches Teufelswerk hat die Kirche ab dem 17. Jahrhundert diese Instrumente verbrannt, deren Herstellung und Verwendung verboten. Deshalb gibt es heute kaum noch originale samische Zaubertrommeln in den Museen der Region zu bewundern.

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Orange leuchten die Moltebeeren, die nicht nur den Samen als Delikatesse gelten.

Millionen niedriger Sträucher und Büsche, Weiden und Birken, Beerensträucher liefern während der Ruska, der herbstlichen Farbenpracht in der Tundra, die Kulisse zum Soundtrack der Zaubertrommel. Es ist ein intensives Orange wie es nur die Moltebeeren das ganze Jahr über tragen. Diese brombeergroßen Früchte, die in den Alpen nicht vorkommen, gelten nicht nur den Samen als besondere Delikatesse.

Weiter im Osten, auf den dunklen Tunturibergen, die bereits in Finnland liegen, schimmert der erste Neuschnee und warnt davor, dass die Farbenpracht der Ruska bald ein Ende hat. Der subarktische Winter wird das Land wieder für Monate in seine Gewalt bringen. Dann lacht die Sonne nur von der Flagge der Samen. (Christoph Wendt, DER STANDARD, 11.10.2014)