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Was ist wahr? Was ist wahrscheinlich? Was ist Roman, was ist Sachbuch? Dichtung? Wahrheit? Was "fiction", was "faction"? Und was gar ist ein "Franz-Ferdinand-Roman"?

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100 Jahre danach, nach 1914 – ist Der Thronfolger Literatur? Erfunden? Erstunken? Erlogen? Alles Luftkutsche?

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Vor 77 Jahren hat der bis heute mäßig bekannte Literat Ludwig Winder im Zürcher Humanitas- Verlag 504 gelbbeschnittene Druckseiten veröffentlicht: Das Buch trägt golden den Doppeladler auf dem schwarzen Umschlag, weil es sich tituliert: DER THRONFOLGER. Gut. Thema! Spannung! Geschichte! Vater+Sohn. Mord+ Totschlag. Thronfolger gibt’s immer, interessiert Bildungsbürger und Boulevard. Aber.

Aber Winder untertitelt sein Werk nicht nur mit der Gattungsbezeichnung Roman. Er spezifiziert: Ein Franz-Ferdinand-Roman.

Schlecht. Weil? Weil jetzt beginnt das Problem: Ist Winders Franz Ferdinand Figur oder Fantasie? Historische Figur oder literarische Fantasie?

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Lügen Dichter? Dichter lügen
nie! Sie schreiben immer ihre Wahrheit.

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So auch Ludwig Winder. Der gründliche Rechercheur ist auf dem Franz-Ferdinand-Kenntnisstand seiner Zeit. Selbst seit zwanzig Jahren lust- und leidvoll mit Winders Thronfolger vertraut, bin ich vertraut auch mit der Tatsächlichkeit des thronfolgerischen Lebens und Strebens. Aus diesem Blick über die FF-Fakten und -Fiktionen weiß ich, was Winder wissbar war über FF, damals, als er Mitte der 1930er-Jahre sein Thronfolger-Manuskript in Zürich ablieferte. Ich denke, er kennt, was seinerzeit öffentlich zugänglich ist.

Winder ist nicht nur Dichter. Er war Wahrnehmer von Beruf und direkt am Impuls der Information. Produktiv als Kulturjournalist, 25 Jahre in Prag, 3000 publizierte Texte, immer am Herzschlag seiner Zeit. Winders erster Roman, ein Journalistenroman, trug den programmatischen Titel Die rasende Rotationsmaschine.

Winder, 1889 geboren, Jude, von zarter Gestalt, fragil, immer Intellektueller, nie Politiker, zum Politischen gezwungen vom Lauf der Zeit, gehörte nach dem Tod Kafkas, den er kannte, zum Literatenzirkel um Max Brod. Sein Buch Die jüdische Orgel von 1922 markierte seine erfolgreiche Literaturlaufbahn. Aber! Er war ein Literatenliterat. Hesse und Thomas Mann gehörten auch zu seinen Lesern. Musil soll sich nicht nur am Titel des Winder-Theaterstücks Die Frau ohne Eigenschaften bedient haben.

1939 musste Winder mit Frau und dem erstgeborenen Kind vor den Nazis ins englische Exil. Denkbar, dass das Versagen seines Herzens 1946 der körperliche Ausdruck seines längst gebrochenen Herzens war. In der Heimat hatte Winder noch erleben müssen, dass SEIN Thronfolger verboten wurde, in Deutschland; und in Österreich hatte auch der Sohn des realen Thronfolgers, Max Hohenberg von Schloss Artstetten, vehement betrieben, dass jeder, der die Verbreitung der 5000 Exemplare jenes Romans besorgt, mit 5000 Schilling oder drei Monaten Arrest bestraft wird: Das "Traditionsschutzgesetz" hatte die Bücherverbrennung eingeläutet.

Ganz anders der andere, ganz andere "Ein Franz-Ferdinand-Roman", die Konkurrenz von rechts: 557 widerwärtige, reaktionäre, demagogisch-schmissig, routiniert-rasant hingefetzte Seiten, benannt Apis und Este, 1931 erschienen, in jenen mittleren 1930er-Jahren längst bei 113.000 verkauften Exemplaren, verfasst vom braunen Barden Bruno Brehm, dem Judenhasser, vom Mann aus Braunau zum "Gottbegnadeten" erhöht. Und der liberale Münchner Piper-Verlag führt nach 1945 bis in die 1990er-Jahre die Schmähschrift an die 500.000-Exemplar-Grenze.

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Winder und die Wissenschaft? Bis heute hat sie sich kaum ernsthaft mit ihm abgegeben, hat ihm nur als höhere Fußnote ein marginales Plätzchen zugewiesen, jenseits des Kanons.

Was Wunder – ohne die Anstrengung ausgerechnet eines gehobenen Boulevard-Journalisten, Jürgen Serke, ab 1977 in Stern und Zsolnay-Verlag, ohne die luzide Studie der Jutta von Sternburg 1994, ohne das Engagement des klitzekleinen Igel-Verlages in Paderborn ab 1995 hätte es in der alten BRD kein Winder-Wunder gegeben.

Und überhaupt – was wäre aus Winder geworden ohne die DDR mit ihrem beseelten Winderologen Kurt Krolop und seiner 413- seitigen, fundierten biobibliografischen Doktorarbeit von 1967, nicht publiziert, ohne seine exzellent benachwortete erfolgreiche Thronfolger-Edition von 1984 f.

Und 100 Jahre danach? Anlässlich der Neuauflage des Thronfolgers wird wohl von Winder Notiz genommen – was aber ist diese 1914-konjunkturelle Wertschätzung wohl wert, wenn das gesamte Feuilleton von FAZ und Süddeutsche über die Zeit zur NZZ hin nach Wien via Falter/Presse/Profil nur nach- und festschreibt, was Winder sich 1937 schon über den vorgestellten Dämonen FF gedacht hat.

So schreibt auch in der Zsolnay-Neuauflage von 2014, die jenseits orthografischer Eingriffe auch den programmatischen Untertitel des Buches falsch wiedergibt, das neue Nachwort von Ulrich Weinzierl die Dämonisierung fort und wirkt auf die quicken Berufsrezensenten rezeptionsprägend.

Heute kann man längst mehr wissen! Da etwa schon seit 1982 die medizinhistorische Analyse „Franz Ferdinand von Österreich-Este“ des Dr. med. Gerd Holler vorliegt, die den analytischen Ton angeben sollte! Ganz zu schweigen davon, dass die Gesamtschau der Geschichtswissenschaft über die 1914er-Epoche längst einen völlig neuen Blick erzwungen hat.

Das Mindeste wäre die Ausgewogenheit des historischen und literarischen Blicks auf Gegenstand und Person. Psychohistorische Differenzierung, kenntnisreiche Gerechtigkeit wären längst möglich statt Weißwäscherei und Schwarzmalerei; souveränes Abwägen wäre längst möglich statt kompromisslerisches Grau-in-Grau. Dass der Doyen der Fer dinandologie, der Hagio-Graf Aichelburg, in seiner Trilogie immer noch schimpft, Winder trage "durch breite Verbreitung zum negativen Bild FFs bei", verwundert da kaum. Dass aber eine Alma Hannig ihr Buch megalomanisch als ausschließlich Die Biografie vorlegen zu können glaubt! Mäßig schlecht geschrieben, mäßig schlecht argumentiert, kritikasternd im Oberlehrinnenton, jenseits jeglicher psychohistorischen und literaturkritischen Kompetenz, will sie Winder in Sachen FF "psychologisierende Erklärungs-versuche" ankreiden und lässt den jüdischen Literaten angesichts der Todesgefahr 1939 verharmlosend „auswandern“ – bodenlos. Da nützt es wenig, wenn sie wie eine PR-Agentin in Sachen FF ein positives Image für den Habsburger reklamiert.

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Winder ist ein glänzender Stilist. Seine Sprachsicherheit, seine Dramaturgie, seine Recherchen, seine Faktentreue, seine Sinnlichkeit, seine Seelenkunde – diese perfekte Schriftstellerei stellt ihn leicht auf die Joseph-Roth-Stufe;

wobei – die alkoholoid-austriakischen Leichtigkeiten, Hübschigkeiten, Sentimentalitäten, Nostalgien, den populären Holzschnitt des Kollegen: All das gehört zu seiner Gabe nicht!

Im Kopf zwar klar und voll scharfen Denkens; in der Reinheit seines Herzens aber floss immer schweres Blut, das sich in seiner Seele mischte mit immer schwerem Mut. Hatte er nicht hellsten Sinns angesichts der Nazis ante portas in Prag immer allen geraten: „Wir müssen weg!“ Und zwar „so rasch als möglich!“ Und er? Der verbotene Bücher-Jude? Hat noch vor der Emigration rasch alle tausend Briefe verbrannt, um seine Korrespondenzkollegen zu schützen, und floh. Seine Möbel? Seine Bücher? Seine Tochter Eva vor allem? Verliebtverlobt blieb sie zurück, Verlobung und Liebe im KZ erstickt.

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Ludwig Winders Thronfolger-Wahrheit: ein Epochen-Panorama. Das Buch verlebendigt die untergehende Habsburg-Monarchie. Die heillose Hemisphäre zwischen imperialem Hofzeremoniell und Allgemeinem Wahlrecht (für Männer, wohlgemerkt). Held des Tableaus der Geschichte ist der Bald-Kaiser und Noch-Thron folger Franz Ferdinand. Der Lauf seines Lebens wird nacherzählt. Beginn: die Kindheit der Mutter als zwölfjähriger Tochter des bourbonischen Bomben-Königs von Sizilien. Ende: die Bestattung des Attentäters, der dem prospektiven Kaiser die Kugel gab. Rapportiert auf dem Wissensstand der 1930er-Jahre, gestaltet in Gestus, Sprache, Diktion der Zeit, neusachlich unterkühlter Ton, seelenkundlich geschult. Der allwissende Autor inszeniert die Innenschau der Außenwelt. Der allwissende Erzähler ist Partei. Seine Empathie getränkt von Antipathie. Der Held FF im großen Figuren-Personal ist unheroisch. Negativ wird er vorgeführt, ein schwankender Typus, der größte Feind seiner selbst. Ausgestattet mit allen Negativa, die man bis heute der Figur FF zuschreibt: Soziale Fallhöhe ist der Geiz, psychische Fallhöhe
die Cholerik, politische Fallhöhe die Machtbesessenheit, dynastische Fallhöhe seine Kaisergeilheit.

Krönung ist die pathologische Fallhöhe von wahnhafter Schießwut, orgiastischer Lust am Töten.

Und die Lust am raffenden Sammeln und Horten. Ein Überlebender, knapp dem Tod durch Tuberkulose entronnen. Ein Überlebender wider Erwarten, auf dessen Tod der Hof schon gesetzt hat. Ein Antiheld. Protagonist und reales Geschehen als bekannt vorausgesetzt, wird sparsam fantasievoll, fantastisch sparsam die Bühne wirkungsstark möbliert: starke Dialoge, starke Gefühle, intensiv beatmete Fakten, Versinnlichungen, Innensichten, Psychobeschauungen aller Art.

Gewinnendes, Positives der Personnage FF? Fließt fast in keiner Zeile ein. Oder? Immer misstrauischer beäugt der Leser die Zentralfigur, selbst dann, wenn sie als liebevoller Gatte, liebevoller Vater in Szene gesetzt werden soll. Selbst die atemberaubende Reality-Love-Story der realen royalen Realität zwischen diesem Romeo-Franzi und seiner Julia-Sophie gerät unter der kühl -distanzierten Feder zum puren Power-Play. Das passt dem Dichter, das passt zur ränkesüchtig und intrigengeil japsenden Dekadenz von Hof-Kamarilla und impotenter kaiserlicher Greisen-Politik. Wunderbare Szenen machistischer Machtspiele, aristokratischer Etikettedünkeleien, salonheißer Scharmützel sind hier Winder geglückt – feine Erfindungen, Finessen der Fiktion! Wahrscheinlich wahr!

Und wenn der greise Kaiser den ungewollten Krieg letztlich wegen des ungewollten Franz Ferdinand doch noch erklären muss, dann hat dieser stein- und beinharte Franz Ferdinand als indirekter Kriegstreiber doch noch einen letzten Sieg über seinen bemitleidenswerten Widersacher errungen. Freiheit poetischer Parteinahme?

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Ein klassischer historischer Roman? Gerade das scheinbar bruchlose Ineinander von Erfundenem und historisch Verbürgtem mindert die Freiheit der literarischen Erfindung, lizenziert die Imagination des Lesers, beschädigt dabei gleichzeitig die Glaubwürdigkeit des Faktischen.

Winders detailliertes Fach- und -Sachwissen manövriert ihn so nah an die Realität, dass von einem Roman kaum mehr gesprochen werden kann. Deshalb wurden diese 504 Seiten weitgehend als Sachbuch, sogar als „Lehrbuch“ wahrgenommen, dessen vorgeblich wahrscheinlichere Wahrheit das längst etablierte Negativbild des realen Franz Ferdinand somit fest- und fortgeschrieben hat: poetische Parteinahme.

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Prekär aber wird diese blutvolle poetische Parteilichkeit, wenn in voller Entfaltung christlicher Hagiografie am Buchende der Attentäter Princip nicht nur „einen elenden Martertod erlitten“ hat, in Theresienstadt, wohlgemerkt – es werden dann, märtyrergleich, nichts weniger als seine „Gebeine“ exhumiert und in Sarajevo nicht begraben, sondern „bestattet“. Heiligenverehrung: Auferstehung als politisches Bekenntnis des Sach-Poeten? Aus poetischer Parteilichkeit ist eine poetische Gerechtigkeit sehr eigener Art geworden: Der Mörder als Märtyrer hat auf Seite 502 das letzte Wort.

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Trotz allem: ein grandioses Buch.

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Nach dem Kollaps des Kommunismus à la DDR habe ich in einem Leipziger Antiquariat meinen Wessivolkswagenkofferraum voll mit drei Partien der Ostberliner Thronfolger-Ausgabe für 33 Westmark erworben, 33-mal verschenkt, weil, trotz allem: Winders Thronfolger – ein grandioses Buch! (Peter Roos, Album, DER STANDARD, 11./12.10.2014)