"Es wird auch in Zeiten von Google den Lehrer brauchen als sachkundigen Experten, der erklärt und Zusammenhänge herstellt", ist der Erziehungswissenschafter Alfred Schirlbauer überzeugt.

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STANDARD: Sie werden am Mittwoch an der Uni Wien über das "Verschwinden des Lehrers" referieren (15. Okt., 17 Uhr, NIG, Universitätsstr. 7, Hörsaal 2i). Wieso verschwinden die Lehrer denn?

Schirlbauer: Als Berufsstand verschwinden die Lehrer natürlich nicht. Aber das, was Lehren ausmacht, die Idee des Lehrers ist zunehmend im Verschwinden. Begonnen hat alles zu Zeiten der Reformpädagogik der 1920er-Jahre mit der Idee vom autonom und bedürfnisorientiert lernenden Kind. Damals geriet schon das Lehren als Erklären, Zeigen und Erzählen einer Sache in Verruf. Die Nazis bereiteten der Reformpädagogik dann ein jähes Ende, obwohl die meisten Reformer ohnehin schon auf dem Wege zu dieser Heilslehre waren. Vermutlich, weil der Disziplingedanke hier fehlte. Ab Ende der 60er-Jahre hatte die Pädagogik ihre "kritische Wende". Gesellschaftskritik auf pädagogisch erwies sich allerdings als Problem. Der Lehrer verschwindet meines Erachtens immer, wenn das Fach seine Konturen verliert. Die 80er-Jahre waren dann die Zeit des Psychobooms. Die gesellschaftskritische Wende machten zwar nur wenige Lehrer mit, die psychotherapeutische schon bedeutend mehr. Das hatte Auswirkungen in der Praxis.

STANDARD: In welcher Form?

Schirlbauer: Plötzlich ging's nur noch ums Ich, um die individuellen Befindlichkeiten. Diskussionen wurden geführt im Modus: Wie siehst du das von dir her? Ich sehe das von mir her so und habe dabei das Gefühl, dass ... Ein unermüdliches Psychologisieren ergriff auch den Schulalltag. Die Sachlichkeit des Unterrichts hatte wenig Chancen gegen das lebendige Gefühl. In den 1990ern gab es noch einmal eine Wende zurück zur Reformpädagogik. Das Kind steht im Mittelpunkt, nicht mehr der Gegenstand des Unterrichts, das Kind mit seinen Bedürfnissen, seiner unendlichen Kreativität, seinen spontanen Lernbedürfnissen. Die psychotherapeutischen Elemente verbanden sich nur allzu leicht mit der reformpädagogisch typischen Verehrung des Kindes.

STANDARD: Sie wollen aber auch von der "Epiphanie" des Lehrers, also der Erscheinung quasi im Status einer Gottheit berichten ... wie das?

Schirlbauer: "Gott Kupfer" lassen wir mal beiseite. Es gibt Tendenzen, die darauf hindeuten, dass der Lehrer wiederkommen wird. Es wird auch in Zeiten von Google den Lehrer brauchen als sachkundigen Experten, der auch etwas erklärt und Zusammenhänge herstellt. Auch die neue Kompetenzorientierung spricht dafür, dass der Lehrer wiederkommen wird.

STANDARD: Warum glauben Sie das?

Schirlbauer: Kompetenz ist so eine Art Plastikwort. Es besagt nicht viel. Alles, was Menschen tun, kann man mit dem Wort Kompetenz verknüpfen. Bindet sich jemand die Schuhe, hat er Schuhbandknüpfkompetenz, kocht jemand, hat er Kochkompetenz. All diese Kompetenzen verweisen aber auf ein sachliches Wissen, ohne welches keine Kompetenz zustande kommt. Man wird also einsehen, dass es nicht nur nicht genügt, Kompetenzkataloge für Unterricht vorzuschreiben, sondern dass diese einen systematisch geordneten Wissenserwerb überhaupt verunmöglichen.

STANDARD: Der Titel der Vortragsreihe heißt "De magistro – vom Pauker zum Begleiter". Sie haben vor 20 Jahren bedauert, dass die Lehrer als Autoritätsfiguren entzaubert seien. War das ein Plädoyer für den guten, alten, autoritären Pauker?

Schirlbauer: Nein, wir brauchen uns auch nicht grämen, dass die Zeit des sturen Paukens vorbei ist. Das Problem ist nur, was haben wir uns stattdessen eingehandelt. Nicht das, was Augustinus in "De magistro" geschrieben hat: einen Lehrer, der es versteht, eine Sache so zu präsentieren, dass die Schüler sie selbstdenkend mitvollziehen können, sondern eine bunte Vielfalt von Unterrichtsmethoden, bei denen zweifelhaft ist, ob sie überhaupt irgendein Wissen generieren. Ich gebe es zu: Ich halte nicht viel vom Selbsttätigkeitsrummel, den so mancher Projektunterricht erzeugt, auch nicht vom Gruppenunterricht. Den selbstständigen Wissenserwerb gibt es zwar, aber sein Ort ist nicht die Schule.

STANDARD: Im Westen Österreichs formieren sich Gymnasiumsbefürworter. Das müsste Ihnen gefallen, 2013 schrieben Sie fast erleichtert: "Der Vizekanzler hat zwar erst unlängst wieder betont, dass er die Tore Roms nicht öffnen werde für Hannibal." Michael Spindelegger gibt es als Schutzherrn des Gymnasiums aber nicht mehr. Fürchten Sie, dass jetzt die gemeinsame Schule kommt?

Schirlbauer: Ich frage mich, wieso die Gesamtschule eigentlich als rotes bzw. grünes Projekt gehandelt wird. Die fortgeschrittenste Gesamtschule hatten seit jeher die USA. Die Gesamtschule ist das spätkapitalistisch adäquate Industriebildungsmodell, ohne Bildungsdünkel zwar, aber mit Elitenqualifizierung über die sündteuren Privatschulen. Man löst damit vielleicht Probleme, erzeugt aber auch welche. Etwas macht mich speziell nachdenklich.

STANDARD: Was denn?

Schirlbauer: Ich denke an die Praktiker. Schon jetzt ist eine Hauptschul- oder neue Mittelschulklasse ein heterogenes Sammelsurium. Detto die Unterstufe der AHS. Wenn wir die zwei in eine Klasse zusammenpacken, wird die Zusammensetzung noch heterogener. Die Lehrer sollen sich dann damit "dasteßn". Natürlich schwärmen gewisse Pädagogen: Dann machen wir innere Differenzierung. Dieses Programm gibt's seit 20, 30 Jahren, nur gemacht haben es in der Wirklichkeit wenige, weil es einfach sauschwer ist, für die verschiedenen Schülerindividuen in einer Klasse verschiedene Lernwege vorzubereiten. Wer das kann, ist ein pädagogischer Zauberkünstler. Es ist schon normaler Unterricht sauschwer, stressig, und nach fünf Stunden ist man geschafft.

STANDARD: Reicht eine Differenzierung in zwei Kindergruppen wirklich aus?

Schirlbauer: Die klassischen Gesamtschulmodelle machen zwar auf Gemeinsamkeit, haben dann aber die Differenzierung innen in A-, B-, C-Leistungskurse, und zwar in Deutsch, Englisch, Mathematik. Das ist auch fatal. Damit sagt man nämlich, worauf's ankommt: Deutsch, Englisch, Mathematik ist wichtig. Für die ideologische Speisung, das Habituelle braucht es dann keine Differenzierung. Geschichte lernt man also ohne differenzierte Schülerschaft. Das heißt, das ist nicht so wichtig oder so viel wert. Da kommt's nicht auf Wissen an, sondern auf die richtige Gesinnung. Naturwissenschaften? Da ist Differenzierung nicht notwendig? Wieso nicht? In Mathematik schon? Ich bin nicht dagegen, einen solchen Versuch zu wagen. Das Problem ist nur, solche Versuche erfolgen immer auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen. Wir wissen nicht, wie das Experiment ausgeht. Das wissen auch die Evaluatoren nicht.

STANDARD: Aber es gibt ja Länder, wo es klappt. In Finnland funktioniert's etwa.

Schirlbauer: Finnland, Schweden, die Skandinavier haben damit ja überhaupt noch nie ein Problem gehabt, aus einem Grund, weil sie keine bürgerliche Gesellschaft gehabt haben. Die Skandinavier sind ja im 20. Jahrhundert direkt von einer Agrargesellschaft in eine Industriegesellschaft gehüpft. Da hat es keine bürgerliche Phase gegeben. Das muss man ja zugeben, die Bildungsidee ist eine bürgerliche Idee. Ist sie deswegen zu verabschieden?

STANDARD: Soll oder muss das Gymnasium eigentlich unbedingt acht Jahre dauern?

Schirlbauer: Nicht ohne Einschränkung. Wenn es das Gymnasium weiterhin geben soll, dann müsste es seine Ansprüche wieder steigern. Viele Gymnasien leisten ja heute nicht mehr das, was sie leisten sollten. Wir haben ja Maturanten, die die Orthografie nicht beherrschen, sich in der Geschichte nicht auskennen, die Naturwissenschaften nicht verstehen. Zum gymnasialen Profil möchte ich noch etwas ganz Reaktionäres sagen: Gymnasium bitte nicht ohne Latein – ab der dritten Klasse -, sonst ist es keines. (lacht)
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 14.10.2014)