Nein, rohe Gamskeule (Gigot de Chamois cru) stand dann doch nicht auf der Speisekarte. Auch Eichhörnchen (Écureuils) und Murmeltierpfeffer (Civet de Marmottes) scheinen ein wenig aus der Mode gekommen. Doch für den Bohneneintopf mit Dorsch (Cassoulet de morue) hat sich der Wirt des "Le Lautrec" in Albi an Die Kunst des Kochens (Verlag Hädecke) gehalten: Die Rezepte des Lokal-Namenspatrons Henri de Toulouse-Lautrec gab sein Freund Maurice Joyant nach dessen Tod heraus.

Grobe Würste, feine Pasteten, Gänseleber, Käse, Safranhonig, Fische, Fleische und Muscheln aller Art und, nicht zu vergessen, üppige Desserts: Dort, wo Henri seine Kindheit und Jugend verbrachte, wird in noblen Restaurants wie in einfachen Bistros getafelt und gebechert.
Foto: Laurent Frezouls CDT Tarn

Wer sich, angeregt durch die aktuelle Toulouse-Lautrec-Ausstellung in Wien, auf die Spuren des französischen Fin-de-Siècle-Malerfürsten ins südwestliche Frankreich begibt, sollte jedenfalls nicht gerade mit einer Hungerkur liebäugeln. Herb perlender Mauzac aus der Gaillac-Gegend, grobe Würste, feine Pasteten, Gänseleber, Käse, Safranhonig, Fische, Fleische und Muscheln aller Art und, nicht zu vergessen, üppige Desserts: Dort, wo Henri seine Kindheit und Jugend verbrachte, wird in noblen Restaurants wie in einfachen Bistros getafelt und gebechert, wie es bei Toulouse-Lautrecs daheim am Schloss so üblich war: viel. Und gut. Und sehr traditionell.

Wo auf Felsvorsprüngen mittelalterliche Festungen in den Himmel ragen, so wie Cordes-sur -Ciel (Foto), das 1222 von Graf Raimond von Toulouse gegründet wurde.
Foto: CRT MP D. Viet

Die berühmten Echaudés etwa bäckt Madame Veronique im Familienbetrieb immer noch wie vier Generationen vor ihr. Zwanzig Tonnen dieser speziellen Aniskeks produziert die Biscuiterie Deymier, verkauft werden sie ausschließlich auf den Wochenmärkten der Tarn-Provinz.

Dort, wo die Hügel weinbewachsen und die Menschen bodenständig sind; wo es sich der kauzige Toulouse-Lautrec-Epigone Bernard Bistes zur Lebensaufgabe macht, sein Château de Mauriac, das früher einem Cousin Toulouse-Lautrecs gehörte, mit viel Fingerspitzengefühl, finanziellem Aufwand und übermütigem Geschmack zu restaurieren. Dort, wo Eve und Yves Boismartel ihre Safranernte zu Honig und Sirups verarbeiten. Und wo auf Felsvorsprüngen mittelalterliche Festungen in den Himmel ragen, so wie Cordes-sur -Ciel, das 1222 von Graf Raimond von Toulouse gegründet wurde.

Hurenböcke und Dirnen

700 Jahre später, 1922, hat die Provinzhauptstadt Albi dem berühmtesten Spross aus dem Geschlechte der Toulouse-Lautrec ein Museum eingerichtet. Tausende Werke (acht davon sind übrigens zur Zeit im Kunstforum zu sehen), die ersten erotischen Poster, die weltberühmten Plakate für Moulin Rouge, Folies Bergère oder den von ihm besonders verehrten Aristide Bruant, Bordellstudien, Künstlerporträts, Saufgelage, Hurenböcke, Dirnen, Artisten.

Das nach der Straße hin fast griesgrämige Stadtpalais in Familienbesitz ist nicht zu besichtigen. Wohl aber das verwunschene, efeubewachsene Château du Bosc in Naucelle, etwa eine halbe Autostunde außerhalb von Albi.
Foto: Christian Riviere

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass Lautrecs leichte Mädchen und lüsterne Herren ausgerechnet dort residieren, wo früher die Inquisition tagte: im Palais de la Berbie, dem Bischofspalast im Schatten der mächtigen gotischen Cäcilia-Kathedrale. Wie eine mächtige Gottestrutzburg überragt der sakrale Backsteinbau die roten Ziegeldächer der Weltkulturerbestadt. Die Gewölbemalerei im Inneren der Kirche ist mit über 97 Metern Länge und 28 Metern Breite das größte Werk der italienischen Renaissance in Frankreich.

Einen entspannten Spaziergang vom Museum entfernt, im Hôtel du Bosc, wurde am 24. November 1864 Henri, Sohn von Adolphe de Toulouse-Lautrec-Monfa und Adèle Tapié de Céleyran geboren. Vater und Mutter waren Cousin und Cousine ersten Grades, wegen seiner daraus resultierenden seltenen Erbkrankheit sowie zweier schlecht verheilter Beinbrüche in der Jugend blieb der große französische Künstler nur 1,52 Meter klein.

Heute wird das Château du Bosc von Nicole Tapié de Céleyran, seiner gleichermaßen betagten wie bezaubernden und robusten Großnichte, bewohnt und 365 Tage im Jahr als Museum bewirtschaftet.
Foto: Christian Riviere

Das nach der Straße hin fast griesgrämige Stadtpalais in Familienbesitz ist nicht zu besichtigen. Wohl aber das verwunschene, efeubewachsene Château du Bosc in Naucelle, etwa eine halbe Autostunde außerhalb von Albi. Auch als er sich schon längst am Pariser Montmartre durch die Bars und Puffs soff und die Schönen der Nacht malte, verbrachte der kleine Graf die Sommermonate auf dem Familienschloss aus dem späten 15. Jahrhundert.

Heute wird es von Nicole Tapié de Céleyran, seiner gleichermaßen betagten wie bezaubernden und robusten Großnichte, bewohnt und 365 Tage im Jahr als Museum bewirtschaftet. Behende huscht die Comtesse über die im Laufe der Jahrhunderte buckelig und schlüpfrig gewordenen Steintreppen und knarzende Holzböden, weist auf Fotos hier, Erinnerungsstücke da. Besonders berührend jener Brief, den Henris Vater an seine Mutter schrieb und den frühen Tod seines geliebten Sohnes beklagte der im September 1901, gezeichnet von Alkohol und Schlaganfällen, an Syphilis gestorben war.

Bleistiftkrankheit

Chinaporzellan in den Vitrinen des Esszimmers; im Salon Tapisserien aus dem 18. und ein Kamin aus dem 15. Jahrhundert, hier sei "petit Henri" am Boden gelegen und habe gezeichnet. In der Orangerie bekritzelte er sogar Fliesen mit Karikaturen seiner Verwandten. Im Schlafgemach ein Arrangement aus Wiege, Kasperlbühne, Kleidung. Am Boden verstreut. Reproduktionen von Zeichnungen, die Originale vermachte Henris Mutter dem Museum in Albi.

Alles diente "petit Henri" als Zeichenunterlage. In der Orangerie des Familienschlosses zeichnete Karikaturen seiner Cousins und Cousinen auf Wände und Fliesen.
Foto: Christian Riviere

Ihr Großonkel, sagt Nicole Tapié, hätte an der Maladie de Crayon, einer Art Bleistiftkrankheit, laboriert: Vom Krankheitsbild kann man sich in der Ausstellung im Kunstforum Wien überzeugen. (Andrea Schurian, DER STANDARD, 18.10.2014)

"Malerfürst in der Halb- und Unterwelt": derStandard.at/Kultur