Ein Honigkleid am Anfang, überall Schokoladegeruch am Ende. Die Süße des Lebens aber ist es nicht. In Jean-Philippe Toussaints Nackt geht vielmehr einiges kaputt, gestalten sich Beziehungen zum Zerreißen schwierig, bis schließlich ein fragendes Liebeswort, als sei es eine letzte Widerrede, bessere Aussichten verspricht. Wie in seinem gesamten Werk setzt dies der belgische Romancier und Fotograf in eindrucksvolle Bilder, in denen er äußere wie innere Bewegungen zu konzentrieren versteht, ohne den Beweggründen alle Geheimnisse nehmen zu wollen. Die Figuren erhalten derart eine Tiefendimension, die Toussaints Sprache kunstvoll anzudeuten versteht.

Mit seinem Erstling Das Badezimmer ist Toussaint 1985 berühmt geworden. Die höchst originelle Erzählung traf einen Nerv der Zeit, sodass in Frankreich von einer "géneration salle de bain", die sich zurückziehe und oft im Unerklärlichen bewege, die Rede war. Faire l'amour, im Deutschen unter dem abgeschwächten Titel Sich lieben, wurde dann 2002 als "reifes Meisterwerk" gelobt, als "seismische und sensuelle Partitur von kristallener Transparenz". Drei Jahre später erhielt Toussaint für Fuir (Fliehen) einen der großen französischen Literaturpreise. Die beiden Werke sind die ersten Bücher eines Zyklus um die Pariser Modekünstlerin Marie und ihre komplexe Beziehung zum Ich-Erzähler. Nach Die Wahrheit über Marie liegt nun mit Nackt der abschließende Teil vor. Die vier Romane spannen einen Jahreszeiten-Bogen, von Winter bis Herbst-Winter; alle pendeln zwischen Fernost und Europa, zwischen einem Festland der Existenz und einer Insel des Alleinseins. Es wechseln Anziehung und Abweisung, intensive Gegenwärtigkeit und seltsame beleuchtete Erinnerungen, glasklare Wahrnehmungen und Projektionen der Einbildungskraft.

Im ersten Band nimmt Marie ihren Geliebten nach Tokio mit, wo ihr eine Ausstellung gewidmet ist. Die weder durch intensiven Sex noch durch eine schöne Szene im Hotelpool über dem Neon der Großstadt abwendbare Zersetzung der Liebe symbolisiert ein Säurefläschchen, eine dauernde Drohung aus der Tasche des Mannes. Nach den Bewegungen von Band zwei und drei, nach einer Motorradflucht aus Peking, deren schneller Rhythmus großartig wiedergegeben ist, versteht der Erzähler die Fahrt zum Begräbnis von Maries Vater auf Elba als "Quintessenz aller Reisen" seines Lebens.

In Nackt ist er nun mit Marie neuerlich in Japan. Der große Höhepunkt der Präsentation von Maries Herbst-Winter-Kollektion in Tokio soll ein Kleid aus Honig sein, kunstvoll auf das nackte Mannequin aufgetragen, dem ein Bienenschwarm als lebende Schärpe folgt. Toussaint schildert diese schräge Kreation auf bestechend sinnliche Weise, die Modeschöpfung als radikales Kunstexperiment. Die von Marie angestrebte Perfektion jedoch wird durch ein einziges falsches Zögern fatal hinfällig. Der Auftritt erweist sich als eine "illusorische Täuschung, die sich wie der Horizont entfernt, den man vergeblich zu erreichen versucht, der immer unerreichbar ist, weil die Entfernung, die uns von ihm trennt, immer hoffnungslos gleich bleibt, auch wenn die festen Bezugspunkte auf der Erde uns beweisen, dass wir bereits einige gute Stücke Wegs zurückgelegt haben seit dem ersten Entwurf, als unser Vorhaben noch eine ferne Spiegelung der vernebelten Limben unseres Geistes gewesen war." Dies scheint auch für die Liebesbeziehung zu gelten - auf originelle Art öffnen bei Toussaint die Sinnbilder weitere Räume.

Den Sommer verbringt das Paar noch auf Elba, in den Herbst kehrt es nach Paris und in die Trennung zurück. Lange Wochen wartet der Erzähler vergeblich auf einen Anruf von Marie. Inzwischen führt ihn seine Erinnerung wieder nach Tokio, wo er Marie nachts durch das Dachfenster des Contemporary Art Space in Gesellschaft zu sehen sucht, das Fläschchen mit Salzsäure in der Tasche.

Im Rückblick führt er sich vor Augen, wie sich ein Mann an Marie heranmachte - eine kurze, leichte Komödie der Verwechslung -, während er selbst dort oben, unbemerkt an der Lichtkuppel, die Liebesworte nicht herausbrachte.

Ende Oktober ruft Marie endlich an. Wieder geht es nach Elba zu einer Beerdigung. Ein "Geruch nach Zersetzung" empfängt sie, die Schokoladefabrik stand in Flammen; mit dem Regen scheint der Geruch vom Himmel zu fließen, um Maries Mantel mit einer Schokoladeschicht zu überziehen.

Auf der Insel erleben die beiden einen Verrat, vor allem aber eine neue Intensität ihrer Vereinigung, das Ende ihrer Ausflüchte und Fluchten, "als sich unsere Seelen anglichen, um unsere Anspannung aufzulösen". Der Schluss des Zyklus bringt keine Überraschung; die Spannung hat Toussaint meisterlich in sensible Szenen und die Ahnung von Empfindungen gelegt, die seine Sprache ebenso sinnlich wie präzise gestaltet - und über alles eine leichte Schicht Melancholie legt. (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 18./19.10.2014)