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Demonstration vor der serbischen Botschaft in Tirana, 16. Oktober 2014.

Foto: AP/Hektor Pustina

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Serbische Fans im Partisan-Stadion, 14. Oktober.

Foto: AP/Marko Drobnjakovic

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Die umstrittene Fahne.

Foto: REUTERS/Marko Djurica

Eigentlich wollte man kommende Woche über regionale Zusammenarbeit, den Kosovo und die nächste Balkan-Konferenz in Wien im kommenden Jahr sprechen. Doch dann kam dieser Stoff dazwischen, ein kleines Fleckchen Polyamid, das über dem Stadion in Belgrad schwebte und das den historischen und lang vorbereiteten Besuch des albanischen Premiers Edi Rama in Belgrad in Gefahr bringt. Plötzlich scheinen die Beziehungen zwischen zwei südosteuropäischen Staaten wegen Provokationen von Fußballrowdies gefährdet.

Am vergangenen Dienstag kam es nach dem Auftauchen dieser Fahne, die mit einer Drohne von einem Unbekannten gesteuert wurde, und auf der ein "Großalbanien" zu sehen war, zu Angriffen serbischer Fußballhooligans gegen albanische Spieler beim EM-Qualifikationsspiel in Belgrad. Albanische Spieler hatten zuvor die Fahne, die von einem serbischen Spieler ganz ruhig aus dem Verkehr gezogen wurde, an sich gerissen. Dann stürmten serbische Fußballfans den Rasen und attackierten die albanischen Spieler.

Südosteuropa-Experte übt Kritik

Der dänische Südosteuropa-Experte Christian Axboe Nielsen sieht in den Ausschreitungen am Dienstag ein strukturelles Problem der schwach entwickelten Staaten auf dem Balkan, wenn es um Rechtsstaatlichkeit geht. Insbesondere im ehemaligen Jugoslawien komme es immer wieder zu Ausschreitungen bei Fußballspielen. Er kritisiert deshalb auch den Mangel an Sicherheitsmaßnahmen bei dem Match in Belgrad.

"Es fehlt der Wille zum konsequenten Eingreifen gegen die Minderheit der gewalttätigen Fans, auch in Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten", so Nielsen zum STANDARD. "Es ist unglaublich, was wir am Donnerstag gesehen haben, besonders, dass Ivan Bogdanov auf das Spielfeld gelangen konnte."

"No-travel-lists" für Hooligans notwendig

Ivan Bogdanov war schon mehrmals Rädelsführer bei Ausschreitungen von serbischen Fußballfans. Er wurde deshalb auch in Serbien zu Haftstrafen verurteilt. "Wie kann es sein, dass solche Ultras ins Spiel eingreifen können?", fragt Nielsen. Der Experte plädiert dafür, dass die verschiedenen Staaten, aber auch die Fußballverbände zusammenarbeiten und gemeinsam "No-travel-lists" für bestimmte Fans erstellen. Nicht nur in Serbien, auch in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina würden vorbestrafte Hooligans ins Stadion gelangen.

Ein zusätzliches Problem sei laut Nielsen die "Verflechtung von Sicherheitsbehörden und den Managern von Fußballclubs". "Warum sitzen die Richter und Polizisten in ihren Betriebsräten? Damit man weiß, wen man anrufen kann, wenn ein Hooligan etwas macht", so der Experte.

Sprechchöre: "Töte die Albaner"

Vergangenen Dienstag bewarfen serbische Fans nicht nur albanische Spieler, sondern auch die wenigen Albaner, die in den VIP-Boxen auf der Bühne saßen, mit Gegenständen. Einige serbische Fußballfans gingen auch mit Fäusten auf die albanischen Spieler los, während die serbischen Fußballspieler aber versuchten, ihre albanischen Kollegen zu schützen. In lauten Sprechchören war von Beginn an im Stadion zu hören: "Töte, töte die Albaner." "Einige riefen dies sogar auf Albanisch", erzählt Blende Fevziu, ein Journalist, der bei dem Match dabei war.

Manipulative Symbolpolitik

Nielsen bedauert, dass es auf der albanischen Seite wie auch auf der serbischen Seite eine Bereitschaft gegeben habe, diese Ausschreitungen sofort durch Aussagen von Politikern eskalieren zu lassen. Wenn der Rechtsstaat so schwach sei wie in Südosteuropa, könnten Politiker durch Symbolpolitik den Nationalismus und die Geschichte einfacher missbrauchen, um zu manipulieren, so Nielsen. "Das ist für die Nachbarschaft und für die EU-Erweiterung aber kontraproduktiv. Warum hat man nicht hinter den Kulissen zu diplomatischen Mitteln gegriffen, sondern hat populistischen Aussagen in den Staatsmedien gemacht?", fragt er.

Entfesselter Medienkampf

Die Aussage, dass der Bruder des albanischen Premiers, Olsi Rama die Drohne gesteuert habe, kam etwa von der serbischen Nachrichtenagentur RTS und wurde dann weltweit verbreitet. Nielsen dazu: "Es ist kein Beweis dafür vorgelegt worden, dass das Gerät vom Bruder des Premiers gesteuert wurde. Die Wahrheit und Fakten gehen total verloren. Der Fußballkampf war noch nicht abgepfiffen, da hat der Medienkampf in den Zeitungen der Region und in sozialen Medien bereits begonnen."

Olsi Rama saß indes in der VIP-Box, wurde dann von serbischen Sicherheitskräften in Sicherheit gebracht und bekam die Vorwürfe gegen ihn erst später zu hören. Alle etwa 35 Albaner (darunter waren ehemalige Fußballspieler, Geschäftsleute, Journalisten und eben Olsi Rama) waren vor dem Spiel umfassenden Sicherheitskontrollen unterzogen worden. Sie wurden, nachdem das Spiel abgebrochen wurde, noch einmal überprüft. Die serbische Polizei hat bei den VIP-Gästen nichts gefunden, was auf irgendeine Involvierung hinsichtlich der Drohne und der Fahne hinweisen könnte. Rama hatte nur ein Handy bei sich, mit dem er auch Fotos gemacht hat.

Drohnen-Zwischenfall ungeklärt

Auch die albanischen Spieler wurden nach dem Spiel von den Sicherheitsleuten überprüft, so auch ihr Gepäck. Danach wurden sie alle mit einem Bus zum Flughafen gebracht und flogen wieder nach Hause. Entgegen anders lautender Meldungen wurden die albanischen Gäste (die allesamt den serbischen Behörden namentlich bekannt und beim Fußballverband akkreditiert waren) niemals verhaftet oder festgehalten. Der albanische Journalist Blendi Fevziu sagte dem STANDARD, dass sich die serbischen Sicherheitsleute absolut korrekt verhalten hätten. Bis heute weiß keiner, wer die Drohne mit der Fahne über dem Stadion steuerte.

Konstruierte Feindbilder

Doch die Fußballprovokationen wurden plötzlich zum Politikum. Beide Seiten richteten gegen die jeweiligen Botschafter im Land Demarchen. Die Frage, weshalb überhaupt Bürger aber auch Politiker so stark auf die Provokationen von Fußballfans reagierten, sei eine Resonanzfrage, so Nielsen.

"Wir haben junge Leute auf dem Balkan, die eine ganz nationalistische Geschichte in ihren Lehrbüchern serviert bekommen. In Serbien werden die Albaner als andere behandelt und als Feindbild konstruiert, und umgekehrt ist das so für die Serben in Albanien. Wenn diese Leute in der Schule und später an der Uni sind, gibt es niemanden, der kritisch gegenüber diesen Narrativen ist. Das dient der politischen Führung", meint Nielsen. "Wenn man hoffnungslos ist, ist es ganz nützlich, dass die Sündenböcke für diese Probleme nicht die Regierung oder die Politik sind, sondern die anderen: Also die Roma, die Serben, die Muslime, die Albaner oder irgendwelche andere."

Willkommene Ventile

Die Frage sei aber, warum die Politik erlaube, dass Botschaften angezündet würden (wie bei der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, 2008 die amerikanische in Belgrad, Anm. der Red.) oder es Angriffe in Fußballstadien gebe. Die Politik würde verstehen, dass dies als Ventil für Frustration funktioniere, so Nielsen. "Mit so einem Ventil kann man vermeiden, dass zu viele kritische Fragen an die Macht gestellt werden", so der Experte.

Als Beispiel nennt er das Jahr 1991, als Slobodan Milošević ein Abkommen mit dem Kriminellen Željko Ražnatović, genannt Arkan, abschloss. Es ging darum, dass die Fußballfans Milošević treu blieben. "Es sollte erreicht werden, dass sich die Wut auf Kroaten, Albaner und Muslime richtet und nicht auf Milošević", so Nielsen. Damals sei es für den Politiker nämlich eng geworden.

"Ist es dem Aleksandar Vučić vielleicht lieber, wenn jetzt viele jetzt blöde Kommentare von Serben über Albaner verfasst werden oder Albaner blöde Kommentare über Serben schreiben, als dass sich die Bürger ernsthaft fragen: Warum geht es mir schlecht?", fragt Nielsen.

Westliche Faszination für Balkanklischees

Kritisch sieht er auch die mediale Berichterstattung. Wenn Schweden gegen Dänemark spielen und irgendjemand mit einer Drohne eine Landkarte von Großdänemark über das Spielfeld fliegen lassen würde, dann würde wohl niemand vom "Erwecken des uralten Schwedenhasses bei den Dänen" sprechen, so Nielsen. Die Kalmarer Union (unter dänischer Dominanz) wurde 1397 beschlossen, also rund um die Schlacht am Amselfeld 1389, die seit dem 19. Jahrhundert im Nachhinein nationalistisch aufgeladen wurde.

"Wir im Westen lassen uns von dem Blödsinn des Missbrauchs der Geschichte auf dem Balkan faszinieren. Und das hat etwas mit doppelten Standards zu tun", kritisiert Nielsen. Journalisten würden offensichtlich gern auf einen "ethnischen Kampf warten", ein "schlechtes Balkanbild" würde damit verstärkt.

Dabei sei der Fußball-Hooliganismus gar kein Balkanphänomen, sondern es komme aus Großbritannien, dass in den Jahren Sicherheitsmaßnahmen entwickelt habe. Hooliganismus und Nationalextremismus seien in jedem Staat eine Herausforderung. Die Ereignisse in Belgrad wurden von internationalen Medien "als Erweckung von uraltem Nationalismus" interpretiert - ganz im Sinne der Balkanklischees.

Schlechte Rolle der Boulevardmedien

Es sei aber unrichtig, so Nielsen, dass die albanisch-serbischen Beziehungen so schlecht seien. "Bis vorgestern waren sie besser als jemals", so Nielsen. Und es sei einfach ein Blödsinn, wenn man von einem "jahrhundertealten Hass" schreiben würde, wie etwa britische Medien. "Es gab keine Krise in den albanisch-serbischen Beziehungen." Tatsächlich waren albanische Albaner (die jahrzehntelang von der gesamten Welt, aber eben auch von Jugoslawien isoliert waren und von denen viele keine Serben kennen) erstaunt und überrascht über die "Töte, töte Albaner" -Slogans im Stadion. In Tirana gibt es nun aber sorgenvolle Stimmen, dass der Nationalismus auch in Albanien steigen könnte.

Tatsächlich haben die Boulevardmedien in beiden Staaten eine schlechte Rolle gespielt und die Stimmung im Vorfeld des Spiels nationalistisch aufgeladen. "Das Ganze wurde irgendwie als eine nationalpolitische Auseinandersetzung und nicht als EM-Qualifikationskampf dargestellt", so Nielsen. So schrieb etwa die serbische Zeitung "Blic" nach dem Drohnen-Vorfall auf der Titelseite: "Sie sind schuldig!"

Albanische Medien nahmen keine kritische Distanz zu der provokanten großalbanischen Flagge. Ein Kommentator im Fernsehen rief: "Sie erniedrigen unsere Fahne", als ein serbischer Spieler diese aus dem Verkehr zog. In Albanien holten die Fans Mittwochfrüh die Fußballer vom Flughafen ab, als hätten diese einen Sieg errungen. Offensichtlich "feierte" man, dass der Gegner die Provokation aufgenommen hat. Die sorgte wiederum in Belgrad für Irritationen.

Gemeinsame Probleme der Gegner

"Die richtige Tragödie ist, dass die jungen Männer, die auf beiden Seiten in solchen Ausschreitungen teilnehmen und provozieren, sowohl in Albanien, wie im Kosovo, wie in Serbien und Kroatien an derselben Hoffnungslosigkeit, an der enormen Jugendarbeitslosigkeit und an den korrupten Staaten leiden. Junge Albaner und junge Serben haben ganz viel gemeinsam. Sie teilen diese Probleme im Alltag. Der Missbrauch von Nationalsymbolen führt diese jungen Männer in eine Sackgasse."

Viele Journalisten würden aber den Alltag dieser Männer und ihrer Milieus nicht verstehen. "Es ist viel einfacher, über eine Erweckung des Balkan-Nationalismus oder den Beginn eines Balkan-Kriegs zu schreiben, als sich mit der komplizierten Wahrheit zu beschäftigen", so Nielsen. In Wahrheit seien viele Fußballklubs in Südosteuropa in einer finanziellen Krise, und viele Leute würden nicht hingehen, weil die Szene von Extremisten geprägt sei. Was oberflächlich als eine nationalistische Ausschreitung beschrieben werde, sei eigentlich ein Symptom für einen schwachen Staat, wo Korruption weit verbreitet sei.

Eskalationsvermeidung möglich

Nielsen vergleicht die Situation am Dienstag mit der erfolgreichen Abhaltung der Gay-Pride-Parade vor wenigen Wochen in Belgrad, wo man Eskalationen vermied. "Was ist da eigentlich passiert, dass diese rechtsextremen Hooligans bei der Gay Pride plötzlich magisch verschwunden sind?", fragt er in dem Zusammenhang. Jahrelang habe man in Belgrad behauptet, man sei ohnmächtig, könne nicht genügend Sicherheit gewährleisten und deshalb die Parade nicht abhalten. "Was ist eigentlich der große Unterschied zwischen 2014 und 2013?", so Nielsen.

Es sei aber hervorzuheben, dass es Fußballspieler auf beiden Seiten gab, die versucht haben, die Gewalt zu vermeiden und dass die Sicherheitsbehörden trotz allem verhindert haben, dass albanische Spieler oder Repräsentanten zu Schaden gekommen seien.

Die Rolle der EU

Die EU solle daran erinnern, dass eine gute Nachbarschaft eine Voraussetzung für eine EU-Annäherung ist, meint Nielsen. Die EU solle aber jedenfalls eine Deeskalierung einfordern. Nielsen meint, dass es nötig wäre, dass beide Premiers sich nun hinstellten und sagen würden: "Wir verurteilen alle Gewalt und sind gegen den Missbrauch von Symbolen. Es gibt hier beim Fußball keinen Platz für Politik und Nationalismus." Es ginge darum, Provokationen etwas entgegenzusetzen.

Es sei jedoch fraglich, ob die EU sich im Sinne von "guten nachbarschaftlichen Beziehungen", die gefordert werden, einmischen sollte. "Man kann ja nicht immer den Babysitter spielen", sagt der Südosteuropa-Experte der Universität Graz, Florian Bieber. "Das Schlimme ist, dass die gezielte Provokation erfolgreich war. Man kann natürlich schon deeskalieren."

Der Druck sowohl von serbischer als auch von albanischer Seite sei aber groß, sich auf "das eigene Publikum zu besinnen" und dementsprechend Aussagen zu treffen. Er habe die Befürchtung, so Bieber, dass keiner den Mut habe, die Lösung der Situation "offensiv anzugehen". Die serbische Regierung tue sich zudem schwer, eine deutliche strafrechtliche Verfolgung von Hooligans zu gewährleisten. "Man hat ein ambivalentes Verhältnis zu Fußballfans", so Bieber.

Er beanstandet andererseits, dass von albanischer Seite nicht kritisiert wurde, dass es sich nicht um eine albanische Flagge, sondern um einen Umriss von "Großalbanien", wie es von Ultranationalisten erwünscht wird, gehandelt habe. (Adelheid Wölfl, derStandard.at, 17.10.2014)