Bild nicht mehr verfügbar.

Kaum Institutionen hinterließ Muammar al-Gaddafi dem libyschen Staat. Was anfangs als Chance wahrgenommen wurde, ist mittlerweile zum Fluch geworden.

Foto: REUTERS / Thaier al-Sudani

Bild nicht mehr verfügbar.

Das Kanalrohr, aus dem Muammar al-Gaddafi am 21. Oktober 2011 gezerrt wurde. Nach der Festnahme brachten ihn die Rebellen um.

Foto: REUTERS / Esam Al-Fetori

Zum dritten Jahrestag gibt es ein düsteres "gemeinsames Statement": Die USA und vier EU-Länder (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien) fordern das sofortige Ende der Kämpfe in Libyen und drohen mit Sanktionen. Drei Jahre nachdem Muammar al-Gaddafi bei Sirte aus einem Kanalrohr gezerrt und vom revolutionären Milizenmob getötet wurde und 45 Jahre nach dessen Machtübernahme versinkt das Land in Kampf und Chaos.

Da es kaum unabhängige Berichte gibt und die Welt am türkischen Grenzzaun mit Blick auf das syrisch-kurdische Kobanê steht, wird Libyen weitgehend ignoriert. Dabei wäre sein Schicksal ein wichtiger Beitrag zur Interventionsdebatte rund um Syrien und den "Islamischen Staat": R2P, Responsibility to Protect (Schutzverantwortung), hatte sich die Nato auf die Fahnen geheftet, als sie, mit einem Uno-Sicherheitsratsmandat ausgestattet (das sie bedenkenlos überschritt), im Frühjahr 2011 in den libyschen Bürgerkrieg zwischen Aufständischen und der Armee des erratischen Diktators Gaddafi eingriff.

Einladung zum Eingreifen

Der libysche Aufstand hatte die Strukturen, die dieses Eingreifen ermöglichten: eine politische Opposition, die geschlossen auftrat und die kämpfenden Rebellen einband, ein geografisches Zentrum, im Osten des Landes. Die Widerstände gegen das Eingreifen auf geopolitischer Ebene waren vorhanden, aber nicht groß, Russland und China enthielten sich im Uno-Sicherheitsrat der Stimme.

Tripolis fiel, das Volk stürmte die neureich-spießigen Villen der Gaddafis. Und dass der Militärbezirk Bab al-Aziziya von einer katarischen Eliteeinheit gestürmt wurde, wussten die Reporter nicht, die vom Volksaufstand und den Tugenden der Revolutionäre berichteten. Von Anfang an spielten andere Akteure mit.

Die Strippenzieher von außen scheinen ein Geburtsfehler zu sein: Libyen wurde von anderen zusammengefügt, ohne dass es eine starke eigene Bewegung dafür gab, und so durchschritt das Land auch den Weg vom Kolonialismus zur Unabhängigkeit und später in die Hände Gaddafis. Ein Prozess zur Findung einer nationalen Identität, wie in anderen Staaten, die um ihre politische Unabhängigkeit rangen, fand nie statt. Die ökonomische Unabhängigkeit, die später das Erdöl verschaffte, war in dieser Hinsicht eher ein Fluch als ein Segen. Der Staat konnte sich alles leisten, ohne ein solcher zu sein.

Alles neu aufbauen

Die krausen Theorien Gaddafis verankerten die Verachtung für Institutionen: Die Jamahiriya, Volksrepublik, sollte von ihren Bürgern direkt regiert werden. In Wahrheit taten sie nichts dergleichen, sondern bildeten höchstens lokale Interessengemeinschaften. Mehr ist Libyen bis jetzt nicht. Drei Jahre danach klingt es skurril, dass manche Beobachter gerade das 2011 als Chance wahrnehmen: Anders als etwa in Ägypten mit seinen starken Institutionen könne man nun alles neu aufbauen: Libyen war ein leeres Gefäß, das man mit Demokratie befüllen konnte.

Es funktionierte nicht, die ersten Risse und Machtkämpfe in der Opposition zeigten sich noch während des laufenden Aufstands. Danach wurde das übliche politische Programm entwor- fen (Wahlen, Verfassungsgebung, Wahlen), erste Verzögerungen und zunehmende Rivalitäten beunruhigten noch nicht übermäßig, eher die wachsende Gewalt, die sich auch gegen die "Befreier", allen voran die USA, richtete. Im September 2012 wurde das US-Konsulat in Bengasi von Islamisten überfallen, Botschafter John Christopher Stevens getötet.

Politik in Geiselhaft

Gewalt war auch Mittel der Politik: Das Parlament war in seiner Arbeit in der Geiselhaft von Milizen, die ihre "revolutionären Rechte" durch Besetzungen und Entführungen durchsetzten. Auch Premier Ali Zeidan erwischte es im Oktober 2013: Im Hotel Corinthia - von Ausländern für sicher gehalten - wurde er von Bewaffneten kurzzeitig "verhaftet".

Dazu kamen die Separatismusbewegung im Osten - die Provinz Cyrenaika war nie mit der Tripolitania zusammengewachsen, ebenso wenig wie Fessan im Süden -, entfremdete ethnische Minderheiten, eine Fememordwelle im ganzen Land, die ersten Angriffe auf Erdölanlagen, den einzigen Kitt, der das Ganze noch zusammenhält. Neuwahlen im Juni 2014 sollten politische Klarheit bringen.

Wenn eine Lektion aus den Jahren seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 und dem Arabischen Frühling gezogen werden kann: Mit Wahlen lässt sich kein defekter politischer Prozess reparieren. In Libyen brachte er den endgültigen Bruch zwischen zwei Lagern, die sich - inmitten von anderen vielschichtigen Konflikten - als stärkste herauskristallisierten.

Misrata gegen Zintan

Man kann sie an den beiden Städten Misrata und Zintan festmachen, an, laut Selbstsicht, "echten" Revolutionären und Pragmatikern, Islamisten und Sicherheitsorientierten. Bei den Wahlen verlor das Lager Islamisten/Revolutionäre/Misrata, es erkannte das Resultat nicht an und erklärte das alte Parlament für nicht aufgelöst, das alsbald Omar al-Hassi zum Premier wählte.

Das neue Parlament musste aus Tripolis, wo die Misrata-Milizen (aus verschiedenen Gruppen) vorrückten und in schweren Kämpfen den Flughafen einnahmen, ins östliche Tobruk flüchten: Von dort arbeitet es beziehungsweise sein Rest (denn die Misrata-Camp-Leute sind ausgezogen).

Warten auf IS

Mit einer minimalen Wahlbeteiligung gewählt, wegen der Sicherheitslage nicht überall, kann es zwar als legitim, nicht aber als repräsentativ bezeichnet werden. Und es wird immer mehr Kriegspartei. Die vom neuen Parlament gewählte und formal legitime Regierung von Premier Abdullah al-Thinni hat ihre Geschicke mit Zintan verknüpft - und damit auch mit der Gestalt des Generals Khalifa Haftar, der, zweifellos vom Ägypter Abdelfattah al-Sisi inspiriert, den Kampf gegen die Islamisten erklärt hat, der zurzeit besonders um Bengasi tobt.

Das ist die "Operation Würde". Die der Gegenseite heißt "Operation Morgenröte". Die "Morgenröte" wird von Katar und angeblich auch der Türkei und dem Sudan unterstützt, während Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate auf die "Würde" setzen. Thinni appelliert an die Nato, sie möge ihre 2011 begonnene Aufgabe zu Ende führen. USA und EU sind hilflos - und sehen bereits den "Islamischen Staat" in Libyen andocken. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 20.10.2014)