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Wenig später war die Luft draußen. Ein Angriff auf das Kunstwerk "Tree" von Paul McCarthy an der Place Vendôme in Paris steht stellvertretend für das Erstarken der Rechten in Frankreich.

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Sieht "französischen Selbstmord": Eric Zemmour

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Für die einen minimalistischer Tannenbaum, für andere ein Sexspielzeug: Sicher ist, dass das aufgepumpte Kunstwerk Tree von Paul McCarthy nicht mehr auf der schicken Place Vendôme steht: Unbekannte ließen am letzten Wochenende nachts die Luft raus und kappten die Halteseile.

Zuvor hatte der "französische Frühling", eine Bewegung von Integristen und Gegnern der Homo-Ehe, getwittert: "Place Vendôme entstellt, Paris erniedrigt!" Angesichts der Widerstände verzichtete der US-Künstler auf den Wiederaufbau. US-Medien kommentierten, der Vandalenakt passe so gar nicht in das weltoffene Paris, das sich gerne als Hauptstadt der zeitgenössischen Kunst verstehe.

Umso besser offenbart die "Tree-Affäre" die politische Stimmung in Frankreich, wo sich von allen großen Parteien nur der rechtsextreme Front National (FN) im Aufwind befindet. In den Buchhandlungen dominiert derzeit ein Werk mit dem bezeichnenden Titel Le Suicide Français. Sein Verfasser Eric Zemmour (56) ist ein Wiederholungstäter, der vor vier Jahren schon La Mélancolie Française herausgegeben hatte. Dem "französischen Selbstmord" geht es noch besser, verkauft sich die Schrift doch täglich 25.000 Mal.

40 Jahre, die Frankreich zerstört haben

Offensichtlich hat der bekannte Radio- und TV-Polemiker, der sich nicht gegen das Attribut "reaktionär" sträubt, einen französischen Nerv getroffen. Laut Untertitel beschreibt der Bestseller "die 40 Jahre, die Frankreich zerstört haben".

In den 1970er-Jahren habe Staatschef Georges Pompidou Millionen afrikanischer Fremdarbeiter nach Frankreich geholt, dann aber erfolglos die Familiennachführung bremsen wollen, meint Zemmour.

Dann habe der liberale Valéry Giscard d’Estaing das Land zu Tode reformiert - wirtschaftlich, aber auch via Zulassung der Abtreibung. François Mitterrand und Jacques Chirac ließen in Zemmours Augen die Dinge schlittern, und Nicolas Sarkozy war ein "Karneval-Bonaparte".

Bild des politischen und moralischen Zerfalls

Der leidenschaftliche Polemiker zeichnet von den letzten vier Jahrzehnten in Frankreich ein Bild des politischen und moralischen Zerfalls, der seit Mai 1968 genährt werde durch Homosexuelle, Feministinnen und Immigranten. Aufs Korn nimmt er vorzugsweise die politisch Korrekten und die Menschenrechtler, die EU-Kommission und das Pariser Establishment - zu dem er selbst einst gerne gehört hätte

Gnade finden vor Zemmours oft giftiger Feder nur wenige, wie Charles de Gaulle, der gesagt haben soll: "Araber sind Araber." Oder dessen Rivale im Zweiten Weltkrieg, Philippe Pétain. Der Anführer des mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regimes habe viele französische Juden gerettet, behauptet Zemmour. Das Argument klingt in Frankreich etwa so, wie wenn ein Deutscher oder Österreicher argumentiert, Hitler habe auch Autobahnen gebaut.

Polemik um die Vichy-Vergangenheit

Zemmour führt als Beleg an, von 300.000 französischen Juden seien nach 1940 "nur" 70.000 deportiert worden. Pétains Verdienst war das aber nicht. Frankreich war nur zur Hälfte besetzt, und das Vichy-Regime hatte umfassende Gesetze erlassen und mehr Juden festnehmen lassen, als die Nazis verlangten.

Die Polemik um die Vichy-Vergangenheit nimmt allerdings in dem Buch nur einen kleinen Teil ein. Die 520 Seiten des "französischen Suizids" sind voller Nostalgie für vergangene Zeiten - die aus Pariser Sicht stets glorreicher sind als die Gegenwart: Seit dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763), als Frankreich Nordamerika und Indien verlor, spricht man in Paris von einem Niedergang.

Persönlicher Horizont

Allein deshalb ist es uneinsichtig, warum Zemmour die Selbstaufgabe Frankreichs auf die letzten 40 Jahre reduzieren will. Er geht, ohne es zu sagen, wohl eher vom persönlichen Erlebnishorizont aus, wenn er in Chansons von damals, Sternstunden des französischen Kinos oder der erfolgreichen Fußball-Ära schwelgt.

Dass die "classe politique" Frankreich seit Jahrzehnten heruntergewirtschaftet habe, wie Zemmour behauptet, trifft zu. Wenn die Staatsschuld kürzlich 2000 Milliarden Euro erreicht hat, dann vor allem deshalb, weil keine Regierung seit 35 Jahren ein ausgeglichenes Budget zustande gebracht hat. Auch war in Paris niemand fähig, in dieser Zeit den Anstieg der Arbeitslosigkeit einzugrenzen. Auch aus diesem Grund verliert Frankreich in der EU und der Welt genau den Einfluss, dem Zemmour so sehr nachtrauert. Trotzdem verficht er ideologisch genau den etatistischen und isolationistischen Ansatz, der für die Malaise verantwortlich ist. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 25.10.2014)