Exakt 51,115 Kilometer. Wenn sich Matthias Brändle am Donnerstag auf sein Fahrrad setzt, wird ihm diese Marke vorschweben. 51 Kilometer und 115 Meter. Es ist jene Distanz, die der Deutsche Jens Voigt am 18. September binnen sechzig Minuten zurückgelegt hat. Der Stundenweltrekord. Brändle will ihn brechen, den einen oder anderen Meter mehr absolvieren. "52 Kilometer sind das Ziel", sagt der Vorarlberger. Doch wenn am Ende genau 51 Kilometer und 116 Meter herauskommen, soll es ihm auch recht sein.

"Wenn sich der Lange etwas in den Kopf setzt, dann zieht er das durch."

Die Kundigen räumen Brändle durchaus Chancen ein. Das hat auch, aber nicht nur mit seiner Person zu tun. Natürlich ist der 24-Jährige aus Hohenems ein guter, ein sehr guter Radfahrer. Zweimal war er österreichischer Meister im Zeitfahren, heuer, in seinem zweiten Jahr beim Schweizer Profiteam IAM, gewann er an aufeinanderfolgenden Tagen und in beeindruckender Manier zwei Etappen der Großbritannien-Rundfahrt.

Will einen neuen Meilenstein setzen: Matthias Brändle.
Foto: Ronan Merot

Rudolf Massak, Generalsekretär des heimischen Radsportverbands (ÖRV), verfolgt seit langem Brändles Werdegang und sagt: "Wenn sich der Lange etwas in den Kopf setzt, dann zieht er das durch." Dem Langen – Brändle ist 1,89 Meter groß – kommt entgegen, dass der Weltverband (UCI) zunächst der Entwicklung sauteurer Spezialräder einen Riegel vorgeschoben hat.

Im Jahr 2000 wurde jenen Marken, die in den Jahren 1984 bis 1996 auf futuristisch anmutenden, besonders aerodynamischen Geräten erzielt worden waren, der Rekordstatus aberkannt, sie laufen nun quasi außer Konkurrenz unter Weltbestmarken.

Der große Francesco Moser

Diese "Bestmarken" beginnen mit dem Italiener Francesco Moser, der am 19. Jänner 1984 in Mexico City als Erster über 50 Kilometer kam (50,808). Sie setzen sich fort mit den Briten Graeme Obree und Chris Boardman, dem Spanier Miguel Indurain und dem Schweizer Tony Rominger.

Letztlich schlug den 56,375 Kilometern, die Boardman am 7. September 1996 in Manchester zurückgelegt hat, quasi die Stunde. Der Brite, die Hände weit nach vorne gestreckt, war förmlich auf dem Rad gelegen.

Von 1893 bis 2014: Die Geschichte des Stundenweltrekordes im Überblick.

Welche Rolle das Hightech-Material spielte, wurde ersichtlich, als die UCI beschloss, nur noch Rekorde auf herkömmlichen Rädern zuzulassen. Boardman nämlich setzte sich auch auf ein solches und hängte am 27. November 2000 den legendären Eddy Merckx, der sich am 25. Oktober 1972 in Mexico City mit 49,431 Kilometern den Stundenweltrekord geholt hatte, um gezählte zehn Meter ab. Nach 28 Jahren.

Bei der WM ist er explodiert: "Das wird mir hoffentlich nie wieder passieren."

Und das war es dann beinahe mit dem Weltrekord, der beinahe in der Versenkung verschwand. Die Zeitfahrgötter der Neuzeit wollten sich die Umstellung von Aerolenkern auf die alten Bügellenker nicht mehr antun. Nach dem Tschechen Ondrej Sosenka, der Boardman mit 49,7 Kilometern im Jahr 2005 den Rekord entriss (und zwei Jahre später wegen Dopings gesperrt wurde), krähte kaum ein Hahn.

Zeiten ändern sich: die Weltrekordräder von Eddie Merckx 1972 (49,4 km) und Jens Voigt 2014 (51,1 km).

Es dauerte allerdings lange, bis der Weltverband (UCI) erkannte, dass er Handlungsbedarf hatte. Erst heuer, exakt am 15. Mai, wurde die Bestimmung aufgehoben, dass ein Rad für einen Weltrekord auf dem Stand von 1972 zu sein hat. Jetzt muss es aktuellen Bestimmungen der UCI entsprechen, diverse Abmessungen sind einzuhalten, beispielsweise darf das Rad insgesamt nicht länger als 185 Zentimeter sein.

Voigt war der Erste, der sich unter diesen Voraussetzungen aufs Rad setzte. Jene 51,115 Kilometer, die er vor 1.600 Zusehern am 18. September, einen Tag nach seinem 43. Geburtstag, in die Bahn von Grenchen in der Schweiz legte, waren der Höhe- und gleichzeitig Schlusspunkt seiner Karriere. Kein Radfahrer hat die Tour de France öfter als Voigt bestritten, der bei 13 Teilnahmen immerhin zwei Etappensiege verbuchen konnte.

Was nicht passieren soll

Matthias Brändle ist der Zweite, der es angeht. Und ein, im Vergleich zu Voigt, noch relativ unbeschriebenes Blatt. Das ist klarerweise seiner Jugend geschuldet und muss nichts heißen. Dass er ein hervorragender Zeitfahrer ist, hat er mehrfach bewiesen, beim jüngsten WM-Zeitfahren allerdings ist er, wie es im Jargon heißt, "explodiert".

Da kratzte er nach knapp zwei Dritteln der Distanz (47,1 km) noch an den Top 10, am Ende fand er sich auf Rang 35 wieder. Das sei ihm vorher noch nie passiert, sagt er. "Und das wird mir hoffentlich nie wieder passieren."

Im Oval des Centre Mondial du Cyclisme (CMC) in Aigle attackiert Brändle den Weltrekord.
Foto: UCI

Sein Alter könnte der eine Unsicherheitsfaktor sein, die Bahn, die er sich ausgesucht hat, ist der andere. Brändle wagt seinen Versuch im Oval des Centre Mondial du Cyclisme (CMC) in Aigle in der Westschweiz, wo auch der Weltverband (UCI) seinen Sitz hat.

Dieses Oval ist 200 Meter lang, nur 200 Meter lang. Viele Bahnen, auch jene in Grenchen, wo Voigt zugange war, messen 250 Meter, und im Allgemeinen gelten längere Bahnen als schnellere Bahnen. Brändle freilich erklärt, er komme in Aigle sehr gut zurecht.

Die relativ engen Kurven auf der Bahn in Aigle? "Ich mag sie"

Natürlich ist auch die UCI daran interessiert, "ihre" Bahn zu promoten. Nyon, die Heimat von Brändles IAM-Team, ist nicht weit entfernt, das spielte bei der Bahnwahl durchaus eine Rolle.

Selbst aus Vorarlberg kommen Brändle-Fans nach Aigle, Herburger Reisen hat eine Busfahrt organisiert, 25 Euro kostet der Spaß. Der Eintritt ins CMC ist sowieso frei, die die 600 Zuseher fassende Halle sollte gut gefüllt sein. Wer nicht vorort sein kann, kann Brändle auch über einen eigenen UCI-Kanal auf Youtube live verfolgen.

Ab 19 Uhr ist das Spektakel am Donnerstag auf YouTube zu verfolgen.
ucichannel

Um 19 Uhr fällt der Startschuss, um 20 Uhr fällt der Vorhang. Brändle hat ungefähr zehn Trainingstage in den Beinen, es galt Material zu testen, die richtige Sitzposition zu finden. Brändles Ziel ist es, so konstant wie möglich 52 km/h zu fahren, 260 Runden lang, ein schwarzer Strich wird ihm die Ideallinie anzeigen.

Die relativ engen Kurven? "Ich mag sie", sagt Brändle. "In der Kurve kann man richtig beschleunigen. Aber die Fliehkraft ist schon ordentlich, das merkt man auch am Sitzfleisch. Ich muss mich wirklich gut einschmieren." Eine vierzig Minuten lange Testfahrt im geplanten Rekordtempo hat ihm viel Selbstvertrauen gegeben.

Brändles Rad hat keine Bremsen, am Ende wird er es einfach ausrollen lassen. Es hat nur einen Gang, den muss er eine Stunde lang durchhalten. 55-13 ist die Übersetzung, die er sich ausgesucht hat, heißt also: 55er-Kettenblatt vorne, 13er-Ritzel hinten.

Voigt war mit 54-14 unterwegs, das bedeutet, dass Brändle mit weniger Umdrehungen bei größerem Kraftaufwand auskommen sollte. Im Training hatte er oft nur ein Scheibenrad (hinten) und ein herkömmliches montiert, am Donnerstag sind es garantiert zwei Scheibenräder. "Die Tests haben gezeigt, dass man dann doch etwas schneller ist."

Das Rad: ein speziell angefertigtes Scott Plasma 5. Wert 14.000 bis 15.000 Euro.

Das Rekordversuchsrad ist ein leicht adaptiertes, ungefähr 6,8 Kilogramm schweres Scott Plasma 5, dessen Wert von Brändle auf 14.000 bis 15.000 Euro geschätzt wird. Allein ein Scheibenrad kostet 3000 Euro.

Ein kleiner, in die Kurbel eingebauter Powermeter wird die Wattleistung messen, die Brändle in die Pedale bringt, über einen Brustgurt ist sein Puls ersichtlich. Von seinen Helfern lässt er sich aber nur seine Rundenzeiten zurufen, diese eine Stunde lang wird ihm sein Puls relativ egal sein.

"Wenn ich es geschafft habe, steht dort für immer mein Name."

22 bis 23 Grad hat es in der Halle. Brändle hat schon am Mittwoch bewusst viel Flüssigkeit zu sich genommen. "Es muss ein Überschuss da sein, damit ich nicht dehydriere." Vier Stunden vor dem Versuch isst er noch einmal ordentlich, Reis oder Pasta, vielleicht auch Reis und Pasta, jedenfalls Kohlenhydrate.

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Weltrekordhalter und Vorbild: Jens Voigt.
Foto: APA/EPA/Klaunzer

In den vergangenen Wochen, seit dem eigentlichen Saisonende, hat er sich bei Tisch nicht weiß ich wie zurückgehalten, knapp achtzig Kilogramm bringt er aktuell auf die Waage. "Während der Saison achte ich schon auf mein Gewicht", sagt er. "Aber in der Bahn gibt es keine Höhenmeter. Da geht es nicht um Gewicht, sondern nur um Aerodynamik."

Im Brändle-Hinterkopf ist der Stundenweltrekord schon seit einiger Zeit. Aber richtig inspiriert und motiviert, sagt der Vorarlberger, habe ihn erst Jens Voigt. "Er ist ein echtes Vorbild für mich, nicht nur wegen des Rekords, sondern wegen der Art, wie er auf der Straße gefahren ist. Auch ich liebe das, vorne wegzufahren und gegen das Feld zu kämpfen. Auch ich will Animateur sein, eine Show machen und die Leute mitziehen."

Kurzes Zeitfenster

Früher oder später wird der Stundenweltrekord einem der ganz großen Zeitfahrer dieser Tage gehören. Bradley Wiggins, Tony Martin und Fabian Cancellara haben schon ihr Interesse an Rekordversuchen bekundet, 2015 könnte es Schlag auf Schlag gehen.

Durch die neuen UCI-Regeln ist ein kurzes Zeitfenster aufgegangen. Matthias Brändle will es nützen, er sieht seine Stunde gekommen. "Und wenn ich es in die Rekordliste geschafft habe", sagt er, "dann steht dort für immer mein Name drinnen." Und daneben würden dann 51,116 Kilometer stehen. Oder auch mehr. (Fritz Neumann, DER STANDARD, 29.10.2014)

Bonusmaterial: Der 1911 geborene Franzose Robert Marchand brachte am 31. Jänner 2014 in einer Stunde 26,93 Kilometer hinter sich. Und hält damit den Rekord der Alterskategorie 100+. Hier das Video.