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In Zeiten der Niedrig- Zinspolitik steigt der Anreiz für Akteure, am Finanzmarkt nach attraktiveren Anlagemöglichkeiten zu suchen.

Enttäuschende Wirtschaftsdaten, eine schwächelnde Weltkonjunktur und Überhitzungstendenzen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass der Euroraum womöglich wieder auf Schlingerkurs gerät. Die gebeutelten Krisenstaaten Spanien und Portugal hingegen könnten möglicherweise zu Reformvorbildern werden, meint Jürgen Matthes, Experte für europäische Wirtschaftspolitik am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln.

STANDARD: Ist die EZB mit ihrer Niedrigzinspolitik auf Abwegen?

Matthes: Die expansive Geldpolitik ist eine Reaktion auf die anhaltende Schwäche bei Konjunktur und Preisentwicklung im Euroraum. Doch sollte die EZB nicht nur die kurzfristigen Risiken im Blick haben, sondern auch mittelfristig drohende Finanzmarktstabilitätsrisiken berücksichtigen. In Unternehmensanleihenmärkten und in den USA in den Aktienmärkten zeichnen sich bereits Tendenzen einer Überhitzung ab, die der Keim für eine nächste Krise sein könnten.

STANDARD: Was wäre ein der jetzigen Situation in Europa entsprechender "normaler" Zinssatz?

Matthes: Eine normale Konjunktur und Inflationserwartung voraussetzt, läge der "Normalzins" unserer Einschätzung nach bei um die drei Prozent. Im gegenwärtigen Umfeld ist es schon klar, dass die EZB deutlich unter diesem Niveau bleiben muss. Trotzdem bleibt die Frage, ob dieses notwendigerweise so nah an der Nullzins-Grenze liegen muss.

STANDARD: Andere Kritikpunkte an der EZB?

Matthes: Die Outright Monetary Transactions der EZB (Staatsanleihe-Ankaufprogramme, Anm.) waren ein richtiger Schritt. Denn die Staatsanleihemärkte spielen im Transmissionsmechanismus eine wichtige Rolle. Wenn die Zentralbank nun aber verbriefte und möglicherweise auch schlecht geratete Kreditforderungen aufkauft, sollte man das nicht unkritisch stehen lassen. Vielmehr ist zu hinterfragen, inwieweit das zu einer überhöhten Anhäufung von Risiken in der EZB-Bilanz führen kann. Das wäre eine Haftungsvergemeinschaftung durch die Hintertür ohne ausreichende demokratische Legitimierung.

STANDARD: Sehen Sie Anzeichen einer Blase an den Finanzmärkten?

Matthes: Solche vorsichtigen Anzeichen gibt es. Die Ampel ist möglicherweise schon dabei, von Grün auf Gelb zu springen. In Zeiten der Niedrig- Zinspolitik steigt der Anreiz für Akteure, am Finanzmarkt nach attraktiveren Anlagemöglichkeiten zu suchen. Höherer Zins lässt sich derzeit eben nur durch höhere Risiken erzielen. Wenn jedoch immer mehr Akteure eine immer höhere Risikotoleranz entwickeln, entstehen im gesamten Finanzsystem neue Risiken, die sich irgendwann realisieren und somit auch zu einer neuen Finanzkrise führen können.

STANDARD: Wie kann man gegensteuern?

Matthes: In einer schwachen Wachstumsphase ist der Spielraum zur Bekämpfung von Finanzstabilitätsrisiken natürlich begrenzt. Man kann die Zinsen gegenwärtig sicherlich nur sehr begrenzt anheben und es braucht die richtige Dosierung. Diese zu finden ist zugegebenermaßen schwierig, zielt die Geldpolitik der EZB doch darauf ab, die gesamte Konjunktursituation zu verbessern. Der Bankenaufsicht stehen jedoch auch makroprudenzielle Instrumente zur Verfügung, also einer gezielten Regulierung von Marktsegmenten oder –akteuren, bei denen sich Überhitzungstendenzen zeigen.

STANDARD: Hört die Zentralbank zu sehr auf die Rufe von Investoren, die sich im Zweifel immer billigeres Geld wünschen?

Matthes: Das ist schwer einzuschätzen. Einerseits könnte man fast diesen Eindruck gewinnen. Auf der anderen Seite könnte man genauso gut argumentieren, dass die EZB einfach sehr risikoavers reagiert und möglicherweise – ob berechtigt oder nicht – stark besorgt um die inflationäre Entwicklung ist. Das IW ist insgesamt etwas optimistischer, was die konjunkturelle Entwicklung betrifft. Wenn man pessimistisch wäre, lässt sich das Handeln der EZB deutlich eher begründen.

STANDARD: Sind die Probleme der Wettbewerbsfähigkeit der Krisenstaaten in der EU hausgemacht?

Matthes: Teilweise schon, wenngleich man die Nachwirkungen der globalen Finanzkrise nicht ausblenden darf. Vor der Krise sind in Portugal, Spanien, Griechenland und zeitweise in Irland, erhebliche Leistungsbilanzdefizite entstanden. Diese waren mit stark steigenden Lohnstückkosten und einem Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit einhergegangen. Inzwischen sehen wir in den meisten "Krisenstaaten" aber nennenswerte Verbesserungen und die vielen Reformen beginnen, sich auszuzahlen. Spanien und auch Portugal könnten möglicherweise zu neuen Reformvorbildern werden. Schwieriger gestaltet sich die Reformdebatte dagegen in Italien und Frankreich, auch wenn wir selbst hier gewisse Fortschritte in der politischen Positionierung erkennen können.

STANDARD: Steuert die Eurozone auf eine Rezession zu?

Matthes: Aus heutiger Sicht nicht, auch wenn sich die konjunkturellen Aussichten in den letzten Monaten nicht so positiv entwickelt haben wie es laut früherer Indikatoren zu erwarten war. Auch das IW hat zwar inzwischen seine Konjunkturprognose für die Eurozone zunächst von eineinhalb auf eineinviertel Prozent Wachstum zurückgefahren. Wir gehen nicht davon aus, aber es ist nicht vollständig auszuschließen, dass die Wachstumsschwäche des Euroraums noch länger anhält, als wir uns das wünschen würden. Wenn es so kommt, könnten die Probleme in der Eurozone wieder neu aufflammen, da die hohe Verschuldung in erster Linie durch neues Wachstum in den Griff zu bekommen ist. (Sigrid Schamall, DER STANDARD, 29.10.2014)