Unverwechselbare Stimme, vielseitige Rollengestaltung: Elisabeth Orth, Doyenne des Burgtheaters, als Gertrude in Shakespeares "Hamlet" (1985).

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Als strammer Lehrer in Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" (2014).

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Und als charismatische Vorleserin.

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Wien - Nein, unterbeschäftigt ist Elisabeth Orth nicht. War sie auch nie. Sie spielt in Onkel Wanja, Charms Zwischenfälle und Die letzten Tage der Menschheit, und im Kasino am Schwarzenbergplatz liest sie am 22. November aus Elias Khourys Die verlorene Seele - Spuren der Erinnerung. Gerade, dass sie zwischendurch Zeit hat, um mit der Ehrenmitgliedschaft des Burgtheaters ausgezeichnet zu werden. Das Gespräch fand am Spätnachmittag in ihrer Garderobe statt; am Abend spielte sie mehrere Rollen in Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit, darunter beängstigend glaubwürdig einen Lehrer, der seinen Schülern strammen Patriotismus und eisige Kriegsfreude eintrichtert.

STANDARD: Macht Sie ein Interview so kurz vorm Auftritt nicht nervös?

Elisabeth Orth: Ich bin schon viel früher nervös. Der Tag beginnt mit dem Damoklesschwert der abendlichen Vorführung, schon in der Früh heißt es: keine Gemütlichkeiten! Viele Kollegen kommen erst in der letzten Sekunde. Ich bin eine berühmte Frühe, mit zunehmendem Alter immer früher. Ich gehe auch immer noch einmal den Text durch.

STANDARD: Sie gelten als sehr präzise Textarbeiterin. Nähern Sie sich der Figur über den Text oder dem Text über die Figur?

Orth: Da bin ich noch nicht ganz genau dahintergekommen, ich bin ja auch erst ganz kurz dabei (lacht). Textlernen ist wie in der Schule, da bin ich gerne feige, lege ihn einen halben Tag irgendwohin, wo er mich nicht schon beim Frühstück anglotzt. Aber dann irgendwann schnagelt's. Bei guten Inszenierungen kommt man mit gelerntem Text, das ist Ehrensache. Und dann passiert zwischen Morgenprobe und Abendvorführung, in der U-Bahn oder zu Hause, was ich als "Fährte aufnehmen" bezeichne: Ich werde zum Jagdhund, spüre Dinge auf - und weiß natürlich zuerst nicht, ob die Kollegen das auch so spüren oder ob ich ihnen noch anderes Fleisch hinwerfen soll, damit sie danach schnappen können. Ich erwarte mir natürlich auch Fleisch von ihnen, wonach ich schnappen kann.

STANDARD: Sie sprechen von guten Inszenierungen - was macht einen guten Regisseur, eine gute Rolle aus?

Orth: Fangen wir beim Regisseur an. Er muss uns, die wir den Text sprechen, die Fenster aufmachen können zu dem, was hinter, hinter, hinter dem Text steht. Das zu entdecken ist das Schönste an der Probenarbeit. Gute Rollen sind nicht große Rollen, sondern solche, die etwas zu sagen haben, die einen Schmerz oder ein Glücksgefühl mit sich herumtragen oder ein verborgenes Geheimnis. Und, ja, der Text muss sprechbar sein.

STANDARD: Lehnen Sie Rollen ab?

Orth: Ich habe mit den Textkaskaden von Elfriede Jelinek meine Schwierigkeiten. Aber wenn ich das nicht spiele, leidet niemand darunter, weder sie noch ich. Es gibt wunderbare Kolleginnen und Kollegen, die das können. Das Angenehme an einem Ensemble ist ja, dass man den Stab weitergibt und sagt: "Das kannst du besser."

STANDARD: Was spielen Sie lieber: gute oder böse Charaktere?

Orth: Gern die bösen. Weil ich etwas tun kann, was ich als halbwegs gut erzogener Mensch sonst nicht mache, vom Betrug bis hin zum Lustmord. Das ist ergiebiger für den Jagdhund, den ich in mir wecken will. Man weiß ja nicht so genau, wie man ist, wenn man mordet, das machen wir ja nicht jeden Tag (lacht). Bei bösen Figuren ist man neugieriger auf sich, und das ist ja ein sehr angenehmer Zustand. Ein Bestandteil dieses Berufs ist: Du lernst nie aus an dir.

STANDARD: Gibt es etwas, was Sie nie gespielt haben, aber gern hätten?

Orth: Das Gretchen, aber ich weine der Rolle nicht nach. Ich habe keine Traum- und keine Wunschrolle, das erleichtert das Leben.

STANDARD: Sie haben 1965 als Luise in Schillers "Kabale und Liebe" an der Burg debütiert und seither vermutlich an die hundert Rollen verkörpert ...

Orth: ... Ja, ich habe unlängst eine Aufstellung gesehen und gedacht: Na, faul war ich nicht, bei Gott nicht.

STANDARD: Lieblingsrollen darunter?

Orth: Vielleicht Iphigenie, vor Jahren Mutter Courage, Elisabeth I. und noch weiter zurück die Marie im Woyzeck, das waren so die Rollen, an die ich gerne zurückdenke und bei denen ich mich wundere, wie viel Zeit darüber hinweggegangen ist. Man schaut ja immer mit den Augen der Gegenwart auf einen Text. Und die guten halten das auch alle aus, über Jahre, das nennt man dann Klassiker. Ich hatte in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren das Glück, nichts Belangloses spielen zu müssen, sondern wirklich Weltliteratur, angefangen bei meinem geliebten Kleist, Goethe, Schiller, Horváth, Feydeau gehört natürlich auch dazu ...

STANDARD: ... und jetzt Karl Kraus.

Orth: Natürlich, auch Weltliteratur. Kraus ist ein Sprachbewahrer, der sich geradezu manisch bemüht, als österreichischer Jude die deutsche Sprache hochzuhalten. Man sagt ja oft, es handle sich um ein Lesestück, auch wir wussten nicht, wie unser Abenteuer ausgeht, in das wir uns gemeinsam mit Regisseur Georg Schmiedleitner begeben haben. Hinein ins kalte Wasser, alle miteinander. Wir kannten uns teilweise nicht - und zack! standen wir auf der Probebühne. Es wurde sogar eine Art von Truppe daraus. Probe um Probe entdeckten wir ein kleines Juwel im Text. Etwa "Es regnet von unten"; grauenvoller kann man sich eine Welt, die dem Ende des Ersten Weltkriegs entgegentaumelt, gar nicht vorstellen. Es fallen Sätze, da denkt man sich: "Kinder, lebt er jetzt? Hat er das jetzt geschrieben?" Es hat sich fürchterlicherweise nur wenig geändert.

STANDARD: Maria Lassnig ärgerte sich immer, wenn man ihr Alter nannte. Wie gehen Sie mit dem Älterwerden um?

Orth: Gerade Lassnig, die sich in einer so selbstzerstörenden Wahrhaftigkeit gemalt hat! Aber irgendwie sympathisch, weil dann doch eine kleine Eitelkeit der Frau dabei ist. Ich für mich denke mir: Was soll's! Wir müssen ja unser Gesicht hinhalten in der Öffentlichkeit. Da kann ich nicht sagen: "Entschuldigung, ich bin eigentlich gar nicht so alt, wie Sie glauben, dass ich bin."(lacht)

STANDARD: Einige Ihrer Kollegen sagen, Ehrungen seien nicht wichtig, nur die Zustimmung des Publikums.

Orth: Natürlich ist die Zustimmung des Publikums unser schönster Lohn. Abgesehen davon hat mich vor Jahren am meisten die Kainz-Medaille gefreut. Ich frage mich immer noch, kann ich sie jetzt anstecken oder ist das arrogant und ich lasse sie lieber im Schmuckkasterl.

STANDARD: Und nun die Ernennung zum Ehrenmitglied des Burgtheaters?

Orth: Schlicht und einfach: Ja, nach fast fünfzig Jahren am Haus freut mich diese Auszeichnung sehr. Punkt. (Andrea Schurian, DER STANDARD, 31.10./1./2.11. 2014)