Matthias Burchardt befasst sich mit Bildung und Monstern.

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STANDARD: Sie gelten als Deutschlands erster "Monsterologe". Was muss man sich darunter vorstellen, und mit welchen Monstern beschäftigen Sie sich denn?

Burchardt: Ich muss immer schmunzeln, wenn ich auf diesen Titel, den mir ein Journalist verliehen hat, angesprochen werde. Selbstverständlich gibt es in vielen kulturwissenschaftlichen Fächern Kollegen, die sich mit Ungeheuern beschäftigen. Mir ging es darum, aus der Sicht der pädagogischen Anthropologie monströse Phänomene zu beleuchten, um die ewig beunruhigende Frage zu beantworten: Was ist der Mensch? Dazu habe ich mir etwa Figuren aus der antiken Mythologie angeschaut, aber auch Ikonen der Popkultur wie King Kong oder Godzilla. Der Ernst des Themas wird deutlich, wenn man medienkritisch die Monsterifikation von politischen Widersachern analysiert, etwa am Beispiel Osama bin Ladens oder auch letzthin der Dämonisierung Putins in Deutschland.

STANDARD: Warum Monster als Forschungsgegenstand? Was lehren sie uns? Immerhin sind Sie Bildungsphilosoph an der Uni Köln.

Burchardt: Monster zeigen wie unter einem Vergrößerungsglas kulturelle Befindlichkeiten an. Sie erzählen von dem, was eine Gesellschaft fasziniert oder auch beängstigt. Es ist doch bemerkenswert, dass eine vermeintlich aufgeklärte Gesellschaft immer noch auf Erzählmuster zurückgreift, die wir aus dem mythischen Zeitalter kennen. Von den "Märkten" etwa haben wir auf dem Höhepunkt der Finanzkrise so gesprochen, als wären sie Fabelwesen wie der Minotaurus, der durch Opfergaben zu besänftigen sei. Ehrlicherweise könnte man Ross und Reiter nennen, denn es sind natürlich identifizierbare Akteure, die gegen ganze Volkswirtschaften spekulieren. Bildungsphilosophisch von Interesse ist natürlich auch die produktive Spannung von Eigenem und Fremdem, aus der wir aufgefordert sind, uns selbst zu erkennen und unsere Urteilsfähigkeit zu schulen.

STANDARD: War es Zufall oder logische Fügung, dass ausgerechnet ein seriöser Erziehungswissenschafter und Lehrerausbilder, gestählt durch den bildungspolitischen Diskurs, zum Monsterologen mutiert?

Burchardt: Sowohl als auch. In einem alten Schulbuch bin ich auf eine Darstellung von "Monstrosi" gestoßen, die nichts anderes zeigt als Menschen mit Behinderungen. Das hat mir zu denken gegeben. Umgekehrt ist es auch spannend: Durch die Monsterologie gestärkt kann ich die bildungspolitischen Ungeheuerlichkeiten, welche im Namen von Pisa und Bologna an uns verübt werden, mit humorvollem Abstand schärfer analysieren. Amüsant finde ich immer, wenn politische Gegner versuchen, meine wissenschaftliche Reputation zu untergraben, indem sie auf dieses Forschungsgebiet verweisen.

STANDARD: Sie bilden am Pädagogischen Seminar der Uni Köln Lehrerinnen und Lehrer aus. Ist die Monsterologie dabei hilfreich?

Burchardt: Der Kern der Lehrerausbildung sollte natürlich woanders liegen: Fachlichkeit, Didaktik, Methodik, Ethik, persönliche Bildung usf. Allerdings stellt sich dem angehenden Lehrer auch die Frage nach dem Menschsein als Voraussetzung und Ziel von Bildung. Das Nachdenken über das Ungeheure mag dabei helfen, einerseits Toleranz gegenüber Fremdem zu üben und andererseits aber auch gegen Bedrohungen des Humanen gewappnet zu sein. Ich glaube fest daran, dass der Lehrer eine anthropologische Schlüsselfigur ist, jemand, der nolens volens Zeugnis ablegt von dem, was es heißen kann, ein Mensch zu sein. Im Guten wie im Bösen schreiben Pädagogen federführend mit an unserer Geschichte. Sie versagen allerdings dort, wo sie sich wie bloße Organe eines gesellschaftlichen oder politischen Formungswillens verhalten, ohne selbst eine verantwortliche Haltung zu den wesentlichen Fragen unseres Daseins zu entfalten.

STANDARD: Fällt der "Lernbegleiter", der die Lehrerinnen und Lehrer ablösen soll, für Sie in die Kategorie bildungspolitisches Monster? Immerhin trägt der Titel Ihres Vortrags in Wien ein skeptisches oder kritisches Fragezeichen: "Vom Lehrer zum Lernbegleiter? Bildungstheoretische Rückfragen an ein schulpolitisches Programm".

Burchardt: Tatsächlich zeichnet sich eine bedenkliche Tendenz ab, den traditionellen Lehrer ableben zu lassen und durch eine technokratische Wiedergängerfigur, "den Lernbegleiter", zu ersetzen. Und trotz aller wohlklingenden Rhetorik verbirgt sich hinter diesem Kulturbruch nicht die Absicht, die Bildung der jungen Menschen zu verbessern, sondern eine Denkungsart, welche dem europäisch-aufklärerischen oder auch dem christlichen Menschenbild völlig zuwiderläuft. Ökonomismus ist eine Facette dieser Konzepte, denn natürlich versprechen solche Modelle auch Effizienzersparnisse im Bildungssektor. Wir werden schon bald erleben, dass die Ressourcen, welche man momentan in neue Schulformen steckt, bald wieder abgezogen werden. Glücklicherweise verstehen verantwortungsbewusste Unternehmer, dass gerade dieser Ansatz nicht nur der allgemeinen Persönlichkeitsbildung schadet, sondern auch dem ökonomischen Erfolg.

STANDARD: Was unterscheidet denn Lehrerinnen und Lehrer vom "Lernbegleiter"?

Burchardt: Die vielgescholtene Figur des Lehrers trug in vielerlei Hinsicht Verantwortung für die Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen. Er verstand sich fachlich auf den Unterrichtsgegenstand und didaktisch auf dessen angemessene Erschließung für die Schüler. Angemessen heißt: bezogen auf den Entwicklungsstand der Einzelnen und der Klassengemeinschaft, bezogen auf die Wertfragen und bezogen auf die Logik der Sache selbst. Es ist der Lehrer, der zeigt, erklärt, auf Relevanzen hinweist, Fraglichkeiten aufdeckt usw. Lehrerzentrierter Unterricht bedeutet ja nicht, dass narzisstisch gestörten Persönlichkeiten eine Bühne geboten werden soll, sondern dass jemand dafür einsteht, dass die Sache und die Schüler im Zentrum stehen. Diese Rollenverteilung entspricht einer menschlichen Grundsituation, die daher rührt, dass wir typischerweise in Generationen von Erwachsenen und Kindern existieren: Die Erwachsenen wissen und können etwas, das die Kinder noch lernen müssen, um ein sinnvolles Leben zu führen. Allein daraus schon rechtfertigt sich die Autorität des Lehrers, eine Autorität, die allerdings auf Auflösung angelegt ist: Irgendwann ist auch der Schüler erwachsen. Ein ganz simples Beispiel aus meiner Kindheit: Ein Feuerwehrwagen steht nach einer Übung an der Straße. Sofort kommen Kinder gelaufen und bestaunen das Fahrzeug. Der gemütliche Feuerwehrmann steigt aus, zeigt und erklärt den Kindern alle Gerätschaften, die sie von sich aus nicht verstanden hätten. Aus der Sicht der modernen Pädagogik müsste man diesem Mann wohl vorwerfen, dass er Frontalunterricht betreibe und die Kinder am selbstgesteuerten Lernen hindere. Der Lernbegleiter soll – so die Programmatik – Situationen schaffen, Arrangements von Materialien, die dem Schüler die Gelegenheit zum Lernen durch Problemlösen geben. Mittels Lernstrategien und Selbstmotivationstechniken wühlen sich Schüler dann allein durch Aufgaben, die nun Lernjobs heißen. Flankierend tritt der Lernbegleiter dann als Coach auf, um bei der strategischen Optimierung zu helfen. Dazu hat er dann in Baden-Württemberg in den neuen Gemeinschaftsschulen bis zu zehn Minuten pro Schüler und Woche, wie mir Lehrer vorgerechnet haben. Auf den Punkt gebracht: Das Konzept des Lernbegleiters überträgt pädagogische Funktionen, die ursprünglich vom Lehrer geleistet wurden, via Material und Prozeduren auf den Schüler und die Lerngruppe. Mitschüler fungieren als Quasi-Lehrer – beschönigend "kooperatives Lernen" genannt, bedeutet aber faktisch eine Ausbeutung der Starken und ein Verkümmern der Schwachen.

STANDARD: Der "Lernbegleiter" war ja als zentrale Figur einer "neuen Lernkultur" geplant. Brauchen wir eine neue Lernkultur oder finden Sie die alte gut genug, bzw. wo sehen Sie denn im Schulsystem – das deutsche und das österreichische sind ja sehr ähnlich – Reformbedarf?

Burchardt: Diese Neutönerei ist eine Strategie des Polit-Marketings. Man zeichnet ein Zerrbild der bewährten Pädagogik und glänzt dann in wohlfeilen Verheißungen. Methodenvielfalt im Unterricht und Selbsttätigkeit von Schülern zählen seit geraumer Zeit zu den pädagogischen Selbstverständlichkeiten. Selbst die politisch absichtsvoll eskalierte Heterogenitätsproblematik (also die starke Leistungsmischung in der Schülerschaft) könnte jeder gute Lehrer mit traditionellen Mitteln bewältigen, wenn etwa die Klassen kleiner wären. Dies würde aber Kosten verursachen, die die Politik nicht aufbringen möchte. Nach allem, was wir bisher beobachten können, wird die "neue Lernkultur" ihre Versprechen nicht halten können. Eine Generation von Kindern wird verunsichert, zunehmend mit mangelhafter Rechtschreibung und erworbenen Dyskalkulien, Schwächen in der Fachsystematik ausgestattet und deshalb weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Das ist besonders tragisch für Kinder, die aus dem Ausland kommen oder aus armen Verhältnissen, denn Kinder aus akademischen Elternhäusern profitieren vom kulturellen Kapital ihrer Herkunft, welches hilft, die Arrangements der neuen Lernkultur zu bewältigen. Schulen brauchen keine weiteren Reformen, sondern Ruhe! Noch haben wir gut ausgebildete und erfahrene Lehrer, die genau wissen, was zu tun ist. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sie nicht durch einen permanenten Reformstress davon abhalten würde. Wir müssen auf jeden Fall zurück zum Kern des Pädagogischen: personale Beziehung als Ort didaktisch vermittelter Sach- und Selbsterschließung. Die Balance von allgemeiner Menschenbildung und berufsweisender Ausbildung ist gar nicht so schwer zu verwirklichen.

STANDARD: Ein großes Schlagwort der Bildungspolitiken in Österreich und Deutschland gleichermaßen ist die Hoffnung in die "individuelle Förderung". Kann sie das halten, was sie verspricht?

Burchardt: Sie sagen es schon: Schlagwort! Hier wird ein starker Begriff der Tradition "Individualität" als Lametta über einen ausgetrockneten Tannenzweig gepappt, damit wir an den Weihnachtsmann glauben. Würde man es ernst meinen, wäre "individuelle Förderung" Einzelunterricht, wie wir es aus der Nachhilfe kennen. Oder man könnte annehmen, dass das "Individuum" Ziel der Maßnahmen wäre: Jeder bringt seine einzigartige Weise, Mensch zu sein, zur höchsten Blüte. Weder das eine noch das andere ist gemeint: Alle arbeiten sich am selben Materialfundus, an denselben Kompetenzrastern ab. Unterschiede bestehen allein in der jeweiligen Station und Geschwindigkeit auf dem Weg zur Gleichmacherei. Und Individualisierung bedeutet auch: Du bist auf dich allein gestellt! Die Klassengemeinschaft wird atomisiert, Lerner operieren selbstreguliert in ihrer individuellen Lernblase. Der Werbeslogan "Länger gemeinsam lernen" klingt dann nur noch zynisch. So als ob Gemeinschaft gleichbedeutend sei mit der physischen Konzentration von Menschkörpern in ein und demselben Schulgebäude!

STANDARD: Was zeichnet denn "guten" Unterricht aus?

Burchardt: Die Hattie-Studie hat uns einen Hinweis gegeben: Auf den Lehrer kommt es an. Der höchste Wirkungsgrad wird im Klassenunterricht und im entwickelnden Gespräch ("reciprocal teaching") erzielt. Doch Hattie hat keine Bibel geschrieben. Guter Unterricht kann vielfältig sein: Ein guter Lehrer wird didaktische Entscheidungen immer in Abhängigkeit vom Thema und der Klasse treffen und entsprechend Methoden und Sozialformen variieren. Lernen bedeutet, in einen Verstehensprozess einzutreten, in dem sich der Einzelne und die Klassengemeinschaft auf eine Sache einlassen. Dabei bringen die Schüler ihre Person mit ins Spiel, denn sie stellen nicht nur ihre Vorverständnisse, sondern sich selbst zur Disposition. Bildung ereignet sich dann vielleicht weniger in gescheiten Antworten oder abgearbeitetem Unterrichtsmaterial, sondern im Augenblick des Schweigens zwischen Frage und Antwort. Ich habe bei meinen Unterrichtsbesuchen solche glücklichen Momente miterleben dürfen: Eine Studentin entwickelt mit einer Klasse – mehr oder weniger disziplinierter – Werkrealschüler eine Frage bezüglich der Winkel im Dreieck. Und weil sie sich nicht mit dahergesagten Antworten zufriedengibt, sondern gemeinsam mit einem Schüler an der Tafelzeichnung die Sachfrage in aller Eindringlichkeit zur Geltung kommen lässt, entsteht eine Situation des gemeinschaftlichen Ringen um Verständnis des Mathematischen.

STANDARD: Sie kritisieren, dass zunehmend "das pädagogische Grundverhältnis aufgekündigt" wird und Lehrerinnen und Lehrer mit "verordneter Entprofessionalisierung" zurande kommen müssen. Was meinen Sie damit?

Burchardt: Unterricht lebt aus dem lebendigen persönlichen Verhältnis von Lehrer und Schülern. Der Lehrer tritt nun aber hinter Materialien, Umgebung und Prozeduren zurück. Böse gesagt, werden die Kinder zu sekundären Wolfskindern gemacht, die man vor ihrer Auswilderung ins Erwachsenenleben schon einmal in ein Reservat entlässt. Dort sollen sie alle Problemlösungen selbst neu konstruieren, so als wäre das Rad nie erfunden worden. Die neue Lernkultur detraditionalisiert ihre Kinder im Namen der vermeintlichen Selbstständigkeit, was faktisch jedoch einer Schwächung gleichkommt. Waren wir noch Zwerge auf den Schultern von Riesen, die ihre Weitsicht aus einer historischen Verwurzelung gewannen, werden unsere Kinder zu Zwergen degradiert, die stolz darauf sein sollen, auf eigenen Füßen zu stehen, auch wenn sie dabei kaum weiter als bis zur eigenen Fußspitze schauen können. "Deprofessionalisierung" meint, dass der Lernbegleiter nur ein geringes Spektrum der Qualifikationen eines traditionellen Lehrers benötigt. Der Fokus liegt eher auf Fähigkeiten der Personalentwicklung und des Classroom-Managements. Fachlichkeit, pädagogische Urteilskraft, didaktische und methodische Fähigkeiten, geschweige denn Persönlichkeitsbildung sind in dem taylorisierten System der schönen neuen Lernwelt eher hinderlich. In den USA – so berichten besorgte Kollegen – sei es schon so weit, dass Curriculum, Unterrichtsmaterial und Tests von dem großen Verlagsunternehmen Pearson gestellt werden. Der Lernbegleiter braucht nur noch die Kompetenz, den Pearson-Umschlag aufzureißen, das Material zu arrangieren und die Tests einzusammeln. Das könnte vielleicht sogar der Gebäudemanager, so sagt man in Deutschland jetzt zum Hausmeister. Übrigens, der nächste Pisa-Test wird gegen gutes Geld von Pearson produziert, und Andreas Schleicher von der OECD sitzt im wissenschaftlichen Beirat des Unternehmens. So ein Zufall ...

STANDARD: Welches ist denn Ihr "Lieblingsmonster" – und warum?

Burchardt: Mein aktueller Favorit ist die OECD, die wie ein Krake in eigentlich souveräne Bildungssysteme eingreift und dort gewaltigen Schaden anrichtet. Es wäre doch einmal an der Zeit, ihr auf die glibberigen Finger zu klopfen, oder?
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 10.11.2014)