Das Innenleben von Hartliebs Bücher: "Der Unterschied zwischen uns und den ,Großen' ist banal und ein wenig kitschig: Wir leben unseren Traum und wollen damit unser Leben finanzieren."

Foto: Helmut Wimmer

Früher war die Welt noch einfach: Die Feinde der kleinen Buchhandlungen waren die großen Buchhandlungen. Wie oft hatte ich Albträume, deren Inhalt immer gleich ablief: In unserer Straße eröffnet ein Buch-Supermarkt, und niemand kommt mehr zu uns.

Für viele kleine Buchhandlungen, gerade in Provinzstädten, war das die Realität: Riesenladen in fußläufiger Nähe aufgemacht, ein paar Jahre ums Überleben gekämpft, aufgegeben, zugesperrt.

Inzwischen hat sich die Situation ein wenig geändert, denn die Aktionäre und Aufsichtsräte, die hinter den großen Buchhandelsketten stehen, merken langsam etwas, was die Kleinen immer schon wussten: Man kann mit Büchern nicht richtig Geld verdienen. Also schon so wie wir. Dass man davon leben kann und eine warme Wohnung hat und vielleicht sogar ein kleines Ferienhäuschen, aber halt nicht viel mehr. Kein riesiger Gewinn am Ende des Jahres, keine Dividendenausschüttung für die Aktionäre. Hätten sie uns mal gefragt. Die Inhaber der kleinen Buchläden hätten ihnen allesamt von Anfang an vorrechnen können, dass man mit Büchern nicht reich werden kann. Der Unterschied zwischen uns und den "Großen" ist banal und ein wenig kitschig: Wir leben unseren Traum und wollen damit unser Leben finanzieren. Und die wollen Profit machen, und zwar jedes Jahr mehr. Unser Auto ist ein Lieferwagen, den Skiurlaub verbringen wir auf der Hütte, und im Sommer leisten wir uns eine Woche Wanderurlaub in Tirol.

Doch mittlerweile sitzt die Konkurrenz nicht in den großen Einkaufsstraßen oder Shoppingcentern, die Konkurrenz aller Buchhändler, egal, ob groß oder klein, ist im Internet und heißt Amazon. Gespeist von der Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit der Menschen, die mit zwei, drei Klicks ihren Einkaufskorb füllen und ihr Konto leeren, die nicht aus dem Haus gehen, weil sie sich einbilden, keine Zeit mehr zu haben. Und drei Tage später bringt ihnen ein Botendienst Bücher, Kleider, Schuhe, CDs, Toaster etc. bis vor die Wohnungstür.

Begonnen hat alles mit einem Nachbarn. Er wohnt im dritten Stock, man grüßt sich im Treppenhaus, ich glaube, er heißt Andreas. In der Buchhandlung habe ich ihn noch nie gesehen, und eines Tages lehnt an unserem Briefkasten ein Amazon-Paket. Die Größe und das Format sehen verdächtig nach Buch aus, ich bin sprachlos. Beim Altpapiercontainer lauere ich ihm auf. "Warum bestellst du bei Amazon, wenn du in einem Haus mit einer Buchhandlung wohnst?"

"Ich weiß auch nicht, ist halt praktisch."

"Du kannst auch bei uns bestellen!"

"Alles?"

"Alles. Und: Bücher kosten überall das Gleiche."

"Ich weiß."

"Aha, das weißt du. Wenn du also keine Lust hast, mit uns zu sprechen, dann schieb einen Zettel durch die Tür, und ich leg dir das Buch auf die Fußmatte - von mir aus mit Rechnung zum Einzahlen. Wir müssen nicht reden."

Das war ganz leicht. Ich habe es versucht, ihm zu erklären, und er hat es verstanden. Kurz darauf ist er weggezogen und bestellt trotzdem noch bei uns.

Dieses Erlebnis ist wie eine Initialzündung. Plötzlich fallen mir die vielen Amazon-Pakete auf, die im engen Umkreis unserer Buchhandlung durchs Viertel transportiert werden, unterm Arm von irgendwelchen jungen Menschen, die es cool finden, ihr ganzes Zeug im Internet zu bestellen.

Und immer wenn ich einen von ihnen treffe, wenn sie auf dem Postamt vor oder hinter mir in der Schlange stehen, dann quatsch ich sie an. Beinhart. Ob sie wissen, was sie tun, wenn sie alles im Internet kaufen? Ob es ihnen nichts ausmacht, wenn sie im Viertel keine Geschäfte mehr haben?

Unser Feind ist schon lange nicht mehr die große Buchhandelskette auf der anderen Seite der Stadt, sondern lauert im Netz. Es ist sexy, per Mausklick zu bestellen, und uncool, in einen kleinen Laden zu gehen und zu sagen, was man möchte. Und immer öfter kommt es plötzlich in uns hoch. Dieses Gefühl, nicht zu genügen, dieses schlechte Gewissen, wenn man ein Buch nicht da hat oder es nicht innerhalb von einem Tag besorgen kann. Amazon wird zur allmächtigen Instanz - alles, was da steht, wird als Wahrheit gesehen, und wir sind plötzlich die kleinen verstaubten Dilettanten. Warum zieht man sich diesen Schuh plötzlich an? Bei Amazon kann man auch nicht reinspazieren und das Buch sofort mitnehmen. Man muss es bestellen, und dann kommt es einen Tag später mit einem Boten, der es wieder mitnimmt, wenn man nicht zu Hause ist. Was ist daran so toll?

Auf dem Weg zum Bäcker

Das Ganze kippte ein wenig vor mehr als einem Jahr. Irgendwo mitten in der Nacht läuft eine Reportage über den Internetriesen. Zwei Reporter haben sich à la Wallraff in das Logistikunternehmen eingeschleust und prangern vor allem die schlechten Arbeitsbedingungen an. Und siehe da, was noch vor fünf Jahren lediglich eine Handvoll engagierter Menschen gesehen hätte, entwickelt sich zum echten Hype. Der Film wird tausendmal geshared und geliked, andere Medien springen auf den fahrenden Zug auf, und plötzlich ist der Internetgroßhändler nicht mehr so sexy. Und innerhalb weniger Tage verjüngt sich unsere Kundschaft.

Die aufstrebenden Rechtsanwälte, Architekten, Werbegrafiker, die auf einmal im Laden stehen, sind anscheinend viel im Internet unterwegs, und zwischen ihren Amazon- und Zalando-Bestellungen waren sie auch auf Facebook und Youtube und haben die Reportage über Amazon gesehen. Und weil sie nicht prinzipiell schlechte Menschen sind, sondern einfach nur bequem, erinnern sie sich an eine kleine Buchhandlung, an der sie schon einmal vorbeigekommen sind, auf dem Weg zum Bäcker. Und plötzlich kommen sie zur Tür herein und blicken sich zögerlich um. Freuen sich, wenn man sie anspricht, sind erstaunt über das Angebot, und dass hier nicht lauter grantige alte Frauen mit Dutt und Brille mit Kettchen um den Hals arbeiten. Sind verblüfft, dass man bei uns auch alle Bücher bestellen kann.

Nur wenn sie ein E-Book bei uns kaufen wollen, dann wird es meistens schwierig. Natürlich kann man in den Webshops der kleinen und großen Buchhandlungen E-Books runterladen, doch die meisten Leser und Leserinnen haben sich für den Kindle entschieden und sich damit an Amazon gebunden. Und Amazon ist da dem stationären Buchhandel weit überlegen, buttert alles ins elektronische Buch. Entwicklung, Werbung, Marketing. Dagegen haben wir keine Chance - und wollen sie gar nicht haben, denn wir lieben das Buch, und zwar in seiner ursprünglichen Form, also Papier zwischen zwei Buchdeckeln, mit einem Schriftbild, bei dem sich jemand genau überlegt hat, wie es gestaltet sein muss, damit wir es gut lesen können. Natürlich geht es um die Geschichte - aber eben nicht nur. Wir sind Buchhändler und -händlerinnen und wollen keine E-Reader erklären, Kabel verbinden, kaputte Displays austauschen oder verlorengegangene Downloads suchen. Wir wollen Bücher verkaufen, den Kunden und Kundinnen helfen, Entscheidungen zu treffen, sie in der Flut der Neuerscheinungen nicht alleinlassen.

Gestern im Zug las ich einen dicken Krimi zu Ende. Der ältere Herr neben mir switchte sich zweieinhalb Stunden durch sein E-Book, las immer wieder einen Text an, klickte ihn weg, las den nächsten und so weiter. Er konnte sich nicht entscheiden, hatte zu viel Auswahl. Ich glaube, er hat die Zugfahrt nicht genossen.

Mir fällt die Geschichte einer alten Dame ein, einer ehemaligen Verlegerin. Sie war vierzehn Jahre alt, als Thomas Mann für eine Signierstunde nach Wien kam, kaufte sich von ihrem letzten Taschengeld Königliche Hoheit und stellte sich in die Schlange, die von der Buchhandlung Gerold am Graben bis zum Stephansdom reichte. Der Moment, als sie neben dem "Zauberer" stand, ihr Buch signieren ließ, ein paar Worte mit ihm wechselte, war wohl einer der eindrucksvollsten in ihrem langen Leben. Was hätte er signiert, wäre sein Roman als E-Book erschienen?

Mit welchem Buch wäre unsere Tochter schlafen gegangen, hätte es Bobo Siebenschläfer oder Karlchen nur in elektronischer Form gegeben? Und dass man zum E-Book-Runterladen keine Buchhandlungen mehr braucht, liegt auf der Hand, und das würde ich auch nicht gut finden, wenn ich nicht zufällig eine Buchhandlung besitzen würde. (Petra Hartlieb, Album, DER STANDARD, 8./9.11.2014)