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Obwohl sich die Gendermedizin langsam etabliert, werden viele Medikamente noch immer ausschließlich an Männern getestet.

Foto: Brigham and Women's Hospital/AP

Klagt eine Patientin über diffuse Schmerzen im Unterkiefer oder oberen Bauch und über bleierne Müdigkeit, so sorgt das beim Arzt meist für keine Aufregung. Erwähnt hingegen ein Patient brennende Brustschmerzen, die in den linken Arm oder ins Kinn ausstrahlen, über Angstgefühle und kalten Schweiß, wird sofort Alarm geschlagen: Verdacht auf Herzinfarkt!

Letztere Symptome sind allgemein bekannt – und vor allem bei Männern typisch. Im weiblichen Körper hingegen kündigt sich ein Herzinfarkt oft sanfter an. Auch Schmerzen im Rücken, Übelkeit und Atemnot können Vorzeichen sein. "Oft erkennen Betroffene und Ärzte die Gefahr zu spät", sagt die Basler Medizinprofessorin Elisabeth Zemp Stutz. Mit ein Grund, warum europaweit mehr Frauen als Männer an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben.

Auch viele andere Krankheiten verlaufen bei Frauen und Männern unterschiedlich, weiß Zemp Stutz, die sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema beschäftigt: Medikamente wirken im weiblichen und männlichen Körper verschieden. Die unterschiedlichen Lebensweisen von Frauen und Männern haben ebenfalls einen Einfluss auf ihre Krankengeschichten. Daher plädieren immer mehr Fachleute für eine neue, geschlechtssensible Medizin: die sogenannte Gendermedizin.

Herzinfarkt als "hysterischer Anfall"

Jahrhundertelang war die Medizin in der Hand von Männern. Die "Halbgötter in Weiß" entschieden alleine über die angemessene Behandlung von Krankheiten. Erst die Frauenbewegung der 1970er-Jahre förderte Ärztinnen und ein Umdenken: Die spezifischen Leiden und Bedürfnisse von Frauen sollten nicht länger ausgeblendet werden. Doch als die amerikanische Kardiologin Marianne Legato in den späten 1980er-Jahren Fallgeschichten von Herzpatientinnen studierte, kam ihr das Gruseln: Viele Ärzte und Ärztinnen diagnostizierten die Anzeichen eines Herzinfarkts bei Frauen als "hysterischen Anfall". Marianne Legato, heute 79 Jahre alt, wurde zur Vorkämpferin der Gendermedizin. Auch wenn bei Frauen bis heute zu viele Herzprobleme zu spät erkannt werden, zeigt ihre Pionierarbeit Wirkung. Immer mehr MedizinerInnen dämmert, dass Frauen und Männer nicht nur äußerlich verschieden sind.

Dass Frauen zum Beispiel häufiger unter Migräne und Kopfschmerzen leiden, hat aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem weiblichen Geschlechtshormon Östrogen zu tun. Sowohl Migräne als auch Kopfschmerz treten im Kindesalter bei Knaben häufiger als bei Mädchen auf, und erst während der Pubertät dreht sich das Verhältnis um.

Auch wo bei Männern und Frauen Fettpölsterchen ansetzen, regulieren die Geschlechtshormone. So lässt nicht nur Bier den Männerbauch wachsen, auch das männliche Hormon Testosteron sorgt dafür, dass sich überflüssige Kalorien am Bauch ablagern. Bei Frauen hingegen verteilt sich das Fett meist birnenförmig auf Hüften, Po und Oberschenkel. "Diese Variante ist nicht nur für das Herz gesünder", weiß die renommierte Gendermedizinerin Vera Regitz-Zagrosek vom Berliner Klinikum Charité. Die Zellen des Bauchfetts produzieren entzündungsfördernde Signalstoffe, die sowohl zu Arterienverkalkung führen, als auch das Risiko für Schlaganfall und Diabetes erhöhen können.

Die Wechseljahre der Männer

Noch einen Vorteil haben Frauen: Östrogen weitet die Blutgefäße, und wohl auch deshalb klagen Frauen durchschnittlich erst rund zehn Jahre später als Männer über Herzprobleme – meist erst nach der Menopause. Daher raten viele Ärzte und Ärztinnen Frauen nach den Wechseljahren zu einer Hormonersatztherapie. Doch 2002 musste in den USA eine großangelegte Studie zu dieser Therapieform abgebrochen werden. Denn in der Gruppe, die Hormone erhalten hatte, gab es 41 Prozent mehr Schlaganfälle und 29 Prozent mehr Herzinfarkte als in der Placebo-Gruppe. Aus bisher ungeklärten Gründen scheint Östrogen die Blutgefäße ab einem gewissen Lebensalter nicht mehr zu schützen – sondern negativ zu beeinflussen. GendermedizinerInnen mahnen seither zur Vorsicht: "Für eine Hormonersatztherapie muss ein triftiger Grund vorliegen", betont die Basler Medizinprofessorin Elisabeth Zemp Stutz. Um generell gegen Wechseljahrbeschwerden vorzubeugen, sei diese Methode nicht zu empfehlen.

Anfangs konzentrierten sich GendermedizinerInnen auf die Frauen. Inzwischen aber widmen sie sich auch der Gesundheit von Männern. Dass diese im Alter von etwa 50 Jahren ebenfalls eine Art Wechseljahre, die sogenannte Andropause, durchleben, wurde dank der Gendermedizin überhaupt erst zum Thema. Rund jede dritte Frau in der Schweiz leidet nach der Menopause unter brüchigen Knochen. Und Männer? Der Arzt Marco Caimi, der in Basel die erste Praxis für Männermedizin der Schweiz eröffnet hat, muss hier immer wieder Aufklärungsarbeit leisten. "Starke Kerle haben starke Knochen" – bis heute würden viele Leute an dieses Klischee glauben, sagt Caimi, "doch wenn während der Andropause der Testosteronspiegel der Männer im Blut sinkt, mindert das nicht nur ihre sexuelle Leistungsfähigkeit. Auch Bluthochdruck, Übergewicht – und eben Osteoporose – können dadurch begünstigt werden." Etwa jeder sechste Mann in der zweiten Lebenshälfte klagt über brüchige Knochen.

Unterschiedliche Lebensweisen

Auch Depressionen gelten gemeinhin als "Frauenleiden". Tatsächlich sind zwei von drei PatientInnen weiblich. GendermedizinerInnen gehen jedoch davon aus, dass auch hier die Dunkelziffer bei Männern sehr hoch ist. "Die Symptome einer Depression äußern sich bei ihnen nur oft anders", sagt der Basler Männerarzt Marco Caimi. Die klassischen Erkennungszeichen, wie wochenlange gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und Antriebsschwäche, seien bei Männern oft von Gereiztheit, Aggressivität, Jähzorn, Alkohol- oder Drogenmissbrauch überlagert. "Schon daher werden Depressionen bei Männern oft lange übersehen", sagt Caimi. "Ähnlich wie ein drohender Herzinfarkt bei Frauen."

Untersuchungen bei Bevölkerungsgruppen, die generell keinen Alkohol trinken, zeigen, dass dort genauso viele Männer wie Frauen an einer Depression leiden. Fachleute vermuten daher, dass sich hinter dem exzessiven Alkoholkonsum von Männern sehr oft Depressionen verstecken. Und schwelt eine solche Erkrankung unerkannt vor sich hin, kann das katastrophale Folgen haben. Depressionen sind europaweit der häufigste Grund für einen Suizid.

Schon aus solchen Gründen interessieren sich GendermedizinerInnen auch für Unterschiede bei der Lebensweise und Problembewältigung von Frauen und Männern. Dass Männer durchschnittlich sechs Jahre früher sterben, führen die ForscherInnen vor allem auf deren riskanteren Lebensstil zurück: Sowohl bei Verkehrsunfällen durch Raserei als auch bei exzessivem Rauchen, Alkohol- und Drogenmissbrauch liegen sie deutlich vor den Frauen. In jüngerer Zeit gleichen sich manche Verhaltensweisen der Geschlechter aber zunehmend an.

Antidepressiva für sie, Schmerzmittel für ihn

Wenn Ärzte und Ärztinnen überhaupt einen Unterschied zwischen Patientinnen und Patienten machen, dann gehen sie oft nach folgender Faustregel vor: Männer haben ernsthafte körperliche Probleme, bei Frauen liegt es an der Psyche. Untersuchungen zeigen: Bei Patientinnen, die unter chronischen Schmerzen leiden, wittern Ärzte häufig seelische Ursachen und verschreiben Antidepressiva. Männer, die über die gleichen Symptome klagen, erhalten Schmerzmittel. Das liegt auch daran, dass sich Patienten und Patientinnen in der Sprechstunde unterschiedlich ausdrücken. Frauen beschreiben ihre Beschwerden emotionaler als Männer – und beeinflussen schon auf diese Weise die Diagnose.

In einem Experiment beschrieb eine Schauspielerin identische Beschwerden vor laufender Kamera einmal sachlich und ein weiteres Mal impulsiv. Prompt reagierten die Ärzte und Ärztinnen völlig unterschiedlich – trotz exakt gleichen Wortlauts. Bei der nüchternen Schilderung kam die Hälfte der MedizinerInnen zur Einschätzung, dass die Frau krank sei, bei der emotionalen glaubte dies nur noch eine kleine Minderheit. Lebhafte Schilderungen scheinen viele Ärzte und Ärztinnen in ihren Vorurteilen zu bestätigen, dass Frauen auch bei geringem Leidensdruck "immer ein Theater machen".

Männer haben es da besser, sie werden ernster genommen. Gleichzeitig gehen sie weniger zum Arzt oder zur Ärztin und verdrängen häufiger ihre gesundheitlichen Störungen. Ganz nach dem Motto: "Ein Mann hat keine Probleme, er macht höchstens welche." In Wahrheit leiden auch viele Männer unter vermeintlichen "Frauenleiden" wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Essstörungen oder eben Depressionen. Doch die Männer haben Mühe, zu solchen Krankheiten zu stehen, weiß Marco Caimi. Bis die Männer offen über ihre Depression reden, sei es wohl noch ein weiter Weg.

Medikamententest ausschließlich an Männern

Eine Sache kritisieren ExpertInnen wie Marco Caimi und Elisabeth Zemp Stutz ganz besonders: Obwohl sich die Gendermedizin langsam etabliert, werden viele Medikamente noch immer ausschließlich an Männern getestet. Ein Grund für diesen Missstand liegt in der Contergan-Katastrophe aus den frühen 1960er-Jahren: Schwangere, die dieses Mittel eingenommen hatten, brachten Babys mit verkümmerten Armen oder Beinen zur Welt. Seither meiden viele Pharmafirmen weibliche Testpersonen aus Angst, dass diese während einer Versuchsreihe schwanger werden könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Wirkung vieler Arzneimittel bei Frauen mit deren Monatszyklus verändert. Nähmen also mehr Frauen an solchen Tests teil, würde das die Auswertungen komplizieren – und die Forschung teurer machen. Die fatale Konsequenz: Bei vielen Präparaten, die auf den Markt kommen, ist völlig unklar, ob sie für Frauen Risiken bergen.

In den 1990er-Jahren mussten mehrere Medikamente gegen Allergien wieder aus den Apotheken entfernt werden, da sie bei Frauen Herzprobleme ausgelöst hatten. Bei den Empfehlungen in der Packungsbeilage wird zu selten darauf geachtet, dass Frauen meist kleiner als Männer sind und daher niedriger dosieren sollten. Der häufig verschriebene pflanzliche Herzstärker Digitalis etwa kann zu hoch dosiert bei Frauen lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen auslösen.

"Wir brauchen dringend verbindliche Regelungen", sagt Elisabeth Zemp Stutz. "Pharmafirmen müssen verpflichtet werden, genügend weibliche Probanden in ihre Medikamententests einzubeziehen." Einige Gendermedizinerinnen fordern inzwischen gar, dass die Pharmaindustrie blaue Tabletten für Männer und "leichtere", rosafarbene für Frauen produzieren solle. (Till Hein, DER STANDARD, 10.11.2014)