Auf dem Hauptplatz der Stadt werden die Stimmen für die Facebook-Seite "Islam" gezählt. Und über einigen Straßen von Novi Pazar hängt der Banner: "Für die Bosniaken, für den Sandžak und für den Mufti". Kürzlich haben Wahlen in der südserbischen Region stattgefunden. Es sind besondere Wahlen, denn nur die Minderheit der Bosniaken darf daran teilnehmen, wenn es darum geht den Nationalrat der Bosniaken zu wählen, der in den Bereichen Bildung und Kultur entscheiden darf. Novi Pazar ist seit jeher die Hochburg der serbischen Bosniaken. Und der Herrschaftsbereich des Mufti.

Der "Mufti" ist so allgegenwärtig, dass niemand seinen Namen nennt, aber alle dauernd über ihn reden. Etwa darüber, dass er "Verbindungen" zum wichtigsten Caféhaus am Hauptplatz hat, zu zahlreichen Unternehmen, dass er die Islamische Universität am Hauptplatz gegründet hat, dass er ein Swimmingpool hat und angeblich drei Frauen, zwei Frauen aber sicherlich. Der Mufti ist wirklich nicht leicht zu übersehen.

Nicht der Chef

Dabei ist der Mufti nicht einmal der Chef seiner Mufti-Partei, die bei den Wahlen den zweiten Platz hinter der SDA erreichte. Muamer Zukorlić spielt auch auf der politischen Bühne das rein "geistige" Oberhaupt. Diese Informalität und die Verquickung von Religion und Politik machen ihn aber zu einer besonders unantastbaren Figur, zu jemandem, dessen Macht man durch die demokratischen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts nicht erfassen kann. Dabei hat sein Einfluss durchaus irdische Gründe.

Zibija Šarenkapić von der NGO DamaD kritisiert etwa die internationale Gemeinschaft, die es zugelassen hat, dass "der Mufti" auch Politiker wurde. "Jeder Botschafter will ein Treffen mit ihm", erklärt sie "und wenn der Minister kommt, dann trifft er auch den Mufti, zumindest inoffiziell". 2012 nahm der Demagoge mit dem dunklen Bart, der in einem großen Haus inmitten von Novi Pazar residiert, schließlich auch an den Präsidentschaftswahlen teil.

Die Macht innerhalb der Religionsgemeinschaft erhält er durch jene loyalen und abhängigen Moscheebesucher, die das Parlament der Islamischen Gemeinschaft wählen. "Der Durchschnitt der Leute hier können diese Wahlen gar nicht beeinflussen", so Šarenkapić, "und die die ihn wählen, stehen teils auf seiner Payroll". Der Mufti ist nun bei den weltlichen Wahlen nicht als Sieger hervorgetreten. Er wirft der Opposition Wahlbetrug vor.. Irgendwie hat in Novi Pazar auch niemand etwas anderes vom Mufti erwartet.

Auseinandersetzung um Wahlen

Die Wahlen zum Nationalrat für die Bosniaken führen regelmäßig zu innerbosniakischen Auseinandersetzungen. Weil bei der Gründungssitzung des Rats zwei Drittel der Gewählten anwesend sein müssen, kann der Mufti aber den Rat zum Scheitern bringen. Insgesamt sind im Rat 35 Personen vertreten, die SDA gewann bei den jetzigen Wahlen 19 Mandate, der Mufti und die Seinen 16 Mandate.

Am 17. November soll nun die konstituierende Sitzung des Rats stattfinden, wenn dieser nicht zustande kommt, repräsentiert niemand die Angelegenheiten der Minderheit. "Dann werden alle Rechte die bisher erreicht worden sind wieder aufgehoben und es müssen neue Wahllisten der Minderheit erstellt werden", erklärt Šarenkapić. Sie kennt den Mufti gut und meint, dass er solange pokern wird, bis er etwas für sich herausholen kann, etwa dass der serbische Staat seine Islamische Universität ganz anerkennt. "Das Gesetz gilt hier nicht für alle", sagte Šarenkapić, "die machen hier immer Deals".

Zu den Spezialitäten der Politik im Sandžak gehört auch der Streit um die Führung der Muslime. Offiziell gibt es eine eigene Islamische Gemeinschaft für Serbien, deren Vorsitzender, der Reis-ul-ulema Adem Zilkić in Belgrad residiert. Diese wird aber von den Bosniaken im Sandžak kaum akzeptiert. Sie fühlen sich eher dem Reis-ul-ulema, Husein Kavazović in Sarajevo zugehörig, zu dessen Organisation, auch der Mufti Zukorlić gehört. In der Vergangenheit gab es zahlreiche Versuche, den Religionsstreit zu beenden und die beiden Islamischen Gemeinschaften zu vereinen, aber selbst türkische Diplomaten scheiterten an der Mission im Sandžak. Immer wieder kam es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Šarenkapić meint: "Belgrad sollte eine der beiden Islamischen Gemeinschaften auflösen." Selbst Šarenkapić plädiert aber dafür, dass der Mufti und nicht der Reis in Belgrad übrig bleiben sollte. "Das hat eben eine jahrhundertealte Tradition."

Emotionale Heimat

Viele Sandžaklije sehen tatsächlich ihre emotionale Heimat in Bosnien-Herzegowina, was die serbische Region nicht unbedingt stabiler macht. Dazu kommt, dass immer wieder seitens der Bosniaken mit Autonomieforderungen gedroht wird. "Wenn wir keine neuen Straßen oder keinen Flughafen haben, dann fordern wir Autonomie, weil wir Druck machen wollen gegenüber Belgrad", erklärt Šarenkapić die Taktik. "Und am Ende schaffen wir Extremismus, weil wir keine Möglichkeit haben, unsere Probleme zu lösen", verweist sie auf jene islamistischen Gruppen im Sandžak, die die Unzufriedenheit über die Religion zu kanalisieren versuchten. Seit einige Wahhabiten im Jahr 2011 verhaftet wurden, seien diese in der Öffentlichkeit weniger sichtbar. Doch auch jüngst tauchten Berichte über Sandžaklije auf, die im Irak oder in Syrien kämpfen. Und erst kürzlich wurden wieder einige Leute verhaftet.

Der Sandžak ist eine konservative und sehr traditionsverhaftete Region. Dabei ist Novi Pazar mit etwa 100.000 Einwohner sehr "jung", wenn es um die Bevölkerung geht. Die Spezialität hier sind Mantije, viereckige Fleischstücke in einer Art Strudelteig, die am besten schmecken, wenn man sie mit Joghurt übergießt. In Novi Pazar gibt es den alten osmanischen Teil, wo Sormun-Brote, Hochzeitskleider und dicke goldene Halsbänder in den Auslagefenstern schimmern. Und Novi Pazar hat einen sehr modernen Teil mit geradezu utopistischer Architektur aus den 1970ern. Novi Pazar ist jedenfalls eine Stadt, wo fast jeden Abend im Hotel Vrbak eine Hochzeit stattfindet. Stundenlang wird dann der Kolo getanzt. Die Männer haben die Arme nach oben gerichtet, die Schultern sind breit, die Frauen haben hohe Schuhe an und ziehen sich ihre kurzen Kleider zurecht.

Der Sandžak selbst hat seinen Namen von einer osmanischen Verwaltungseinheit, ein Teil liegt in Serbien, ein anderer in Montenegro und im Kosovo. Wenn man alte Fotos betrachtet, waren Frauen in Novi Pazar noch in den 1950ern voll verschleiert. Auch heute wird hier wenig Alkohol getrunken und Frauen (beziehungsweise ihre Familien) legen wert darauf, dass sie offiziell als "Jungfrauen" in die Ehe gehen, manche gehen dafür vor der Hochzeit noch zum Chirurgen.. Die Geschlechterrollen sind ziemlich unbeweglich.

Homophobe Rhetorik

Der Mufti selbst punktet unter anderem mit homophober Rhetorik beim konservativen Publikum. Aber er sorgt auch mit anderen Themen für Provokationen. Anfang September ließ er eine Truppe von Männern mit Fahnen, das rote Fez auf dem Kopf, in grünen militärisch anmutenden Uniformen durch Novi Pazar marschieren. Die "Armee des Mufti" löste nicht nur bei der Minderheit der Serben in der Stadt Angst aus, sondern auch bei internationalen Beobachtern. Denn der Sandžak gilt als eine instabile Region in Serbien, er liegt zwischen den beiden unfertigen Staaten in Südosteuropa, dem Kosovo und Bosnien-Herzegowina.

Der Sandžak ist zudem eine sehr arme Region. Hier wird an Litfaßsäulen dafür geworben, seine Haare zu verkaufen. Wie überall in Serbien ist die Arbeitslosenquote hoch und liegt etwa bei 50 Prozent, in Novi Pazar haben 1000 junge Menschen, die ein Studium abgeschlossen haben, keinen Job. Im Verwaltungsapparat arbeiten viel zu viele Leute, auch das ist überall in Serbien so. Nur werden diese Probleme in Novi Pazar nach ethnonationalistischen Kriterien betrachtet. Insgesamt leben im serbischen Teil des Sandžak etwa 175.000 Bosniaken, gemeinsam mit jenen Leuten, die sich als Muslime bezeichnen, sind das etwa 200.000 Personen, also etwa 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung. "Bei der Polizei und beim Gericht ist das Verhältnis zwischen Serben und Bosniaken aber 80 zu 20", sagt Šarenkapić. Viele Bosniaken fühlten sich deshalb diskriminiert.

Diskriminierung

Die Menschenrechtsaktivistin Semiha Kačar meint, dass im Sandžak vor allem die Roma diskriminiert würden. Sie erzählt aber auch, dass während der 1990er Jahre, der repressiven Milošević-Ära, die Zahl der Muslime in der Polizei, bei den Steuerbehörden und in der Armee "verringert" wurde. "Seit 2010 werden aber wieder mehr Bosniaken angestellt", beschreibt sie positive Entwicklungen. "Erst kürzlich wurden 18 Polizeikadetten angenommen, davon waren mehr als die Hälfte Bosniaken."

Medial sind die Bosniaken im Sandžak stark vertreten. Natürlich hat auch der Mufti diverse TV-Sender hinter sich. Laut Kačar hielten sich einige davon nicht an die Regelung, wonach zwei Tage vor den Wahlen keine Umfragen mehr publiziert werden sollten. Kačar findet es aber vor allem bedenklich, dass "der Mufti" die Religion permanent für die Wahlen missbrauchte. So sagte er etwa: "Allah liebt die Einheit, gehe und wähle für das Eine, so kannst du Gott gefallen." Und natürlich war die Mufti-Partei auf den Wahlzetteln die Nummer Eins.

Die Wahlkommission hat mittlerweile die Beschwerden der Mufti-Partei, die sich über Wahlbetrug in der Stadt Tutin beschwerte, zurückgewiesen. Viel Zeit für Pokerspiele bleiben dem Mufti aber nicht. Der Nationalrat muss bald gebildet werden. Kačar glaubt, dass Zukorlić am Ende einlenken wird. "Wenn er die Bildung des Nationalrats verhindert, wird er dafür verantwortlich gemacht werden", sagt sie. "Und wenn wirklich kein Rat gebildet wird, zeigt dass nur, dass wir demokratisch einfach unreif sind." (Adelheid Wölfl, derStandard.at, 13.11.2014)